„Der Schneesturm“ in München: eine echte und tolle Teamleistung!

Der Schneesturm, Ballett, Bayerische Staatsoper, München, Livestream, 17. April 2021

Bayerische Staatsoper, München, Livestream, 17. April 2021
Rezension des Videolivestreams: Der Schneesturm, Ballett

von Frank Heublein

Gestern hatte das Handlungsballett „Der Schneesturm“ nach einer kurzen Erzählung Alexander Puschkins im Nationaltheater München seine Premiere.

Worum geht es?

Marja lebt in einem Haus mit ihren Eltern, Zofe und Knecht. Sie tut sich schwer, in dieses Leben zu fügen. Sinnbildlich dafür ist eine übergroße Schneekugel. Diese präsentabel zu halten gelingt ihr im Verlauf des ersten Aktes immer weniger. Ihr Geliebter Vladimir wird von den Eltern abgelehnt. Marja wiederum wird belastet von Menschen, die mit ihr im Haus wohnen. Die zeigt sich in einer nächtlichen Albtraumszene.

Marja und Vladimir beschließen heimlich zu heiraten. In der vereinbarten Nacht tobt ein Schneesturm. Es bleibt unklar, ob Vladimir es überhaupt schafft zur Kirche. Ein anderer, ein Soldat namens Burmin hingegen sucht dort Schutz. Im ersten Akt bleibt es im Dunkeln was in dieser Nacht in der Kirche passiert ist. Doch Vladimir ist verzweifelt, meldet sich zum Militär und zieht in den Krieg. Darüber erleidet Marja einen wütenden Zusammenbruch. Der erste Akt endet mit der Nachricht, dass Vladimir auf dem Schlachtfeld umgekommen ist.

Der zweite Akt beginnt mit dem aus dem ersten Akt bekannten Familienportrait. Einige Jahre sind vergangen nach den Ereignissen. Der Vater ist ersetzt durch ein Bild. Zofe und Knecht haben eine neue Anstellung als Pfänderin und Pfänder. Marja und ihre Mutter sind mittellos. Ihnen bleibt wenig, darunter aber auch die Schneekugel.

Auf einem Fest stoßen zufällig Marja und Burmin ineinander. Sie fühlen sich zueinander hingezogen, wollen heiraten. Bei den Personen des Dorfs macht die Nachricht die Runde, dass B. bereits verheiratet sei.

Diese Nachricht dringt zu Marja vor, die Burmin zur Rede stellt. Er bestätigt die Nachricht und wird von Marja geohrfeigt. Diese Ohrfeige löst in beiden eine Erinnerung an die Nacht des Schneesturms in der Kirche aus.

In der Rückblende wird klar, das im schwummrigen Licht der Priester nur schnell die beiden anwesenden Personen verheiratet hat. Marja erkennt B.s Ring und zieht aus dem alten Hochzeitskleid, das sie wegen der Mittellosigkeit erneut hervorgezogen hat, den Ring, der ihr in der Kirche auf den Finger gezogen wurde: es ist ein Paar!

Marja und Burmin tanzen glücksselig. Burmin wird bei schönem Wetter von Freunden abgeholt. Marja will nachfolgen. Dankt der Schneekugel, indem sie diese schüttelt. Als sie die Haustüre öffnet tobt draußen der Sturm.

Wie wird inszeniert und choreographiert?

Das Bühnenbild ist minimalistisch. Räume werden durch Lichtumrisse skizziert. So bleibt Raum für die Tänzerinnen und Tänzer. Das eingesetzte Licht spielt eine wichtige Rolle. Denn die Bühne ist oftmals sehr dunkel und wird nur punktuell ausgeleuchtet. Christian Kass gestaltet die Lichtregie exzellent.

Elemente werden klug eingesetzt. Wunderbar kreativ und klar inszeniert von Andrey Kaydanovskiy die Trennung Marjas von Vladimir durch einen Vorhang, den der Vater zwischen Vladimir und Marja über die ganze Bühne zieht, Vladimir mit dieser Bewegung aus dem Raum stoßend.

Choreograph Andrey Kaydanovskiy setzt an einigen Stellen eine Technik ein, die im Film Splitscreen genannt wird. Zwei unterschiedliche aber aufeinander bezogene Handlungen passieren auf der linken und rechten Seite oder im Vordergrund und Hintergrund der Bühne gleichzeitig. Das funktioniert sehr gut, gibt der Handlung Intensität und Schwung.

Die Familiensituation wird präsentiert wie ein Gemälde, welches im Laufe des ersten Aktes auseinanderbricht. Ein einfaches treffendes Bild. Ein enger Rahmen, aus dem Marja nicht ausbrechen kann. Marjas Anpassungsschwierigkeiten werden hervorragend durch das immer fehlerhaftere Ausbalancieren der übergroßen Schneekugel vermittelt.

Ich bin erstaunt. Ich sehe ein Handlungsballett, bei dem sich Ballett gegenüber der Handlung zurücknimmt. Manchmal merke ich gar nicht, das alle Bewegung Tanz ist, so sehr drängt sich die Handlung mir auf. Tänzerische Elemente werden immer sehr streng gemäß der Handlung einsetzt. Ensembleszenen sind eine Ball- und eine  Volksfestszene. Die kleinen Gruppen bis hin zu den Pas des deux sind vollkommener Ausdruck der gespielten Handlung. Organisch fügt sich der Tanz in die Handlung ein. Meine stärksten Eindrücke:

Das Quartett Marjas und den drei Verehrern. Auf die getanzten Avancen der drei Männer reagiert sie steif wie ein Brett. Offensichtlich wird das bei den tänzerischen Hebungen. Am Ende windet sie sich einige Male geschickt aus den tänzerischen Fängen der Männer und vertreibt sie letzten Endes. Erste Solotänzerin Ksenia Ryzhkova als Marja zeigt, dass sie nicht nur perfekt tanzen kann, sondern auch schauspielerisch sehr ausdrucksvoll ist. Eine tolle Gesamtleistung, die für mich auch gegenüber allen anderen Ensemblemitgliedern außergewöhnlich ist.

Ganz anders als das obige Quartett dann der Pas de deux Marjas mit Vladimir. Ksenia Ryzhkova und Jonah Cook als Vladimir verschmelzen in den getanzten Figuren ineinander. Ein großartiger intensiver Ausdruck romantischer Liebe brennt sich in mir ein. Marjas Körper ist ebenso biegsam und anschmiegend wie Vladimirs. Marjas Körperausdruck steht damit im deutlichen Kontrast zur vorherigen Steifigkeit und verstärkt für mich so die Prägnanz der Liebe zu Vladimir.

Wie wird ein Schneesturm getanzt? Choreograph Andrey Kaydanovskiy löst die Aufgabe brillant. Die weißen Figuren sind stürmische Elemente, gegen die Vladimir tänzerisch ankämpfen muss. Mit all dem Flitter eine mich überzeugende tänzerische Übersetzung des Sturmgetoses.

Humoristisch ausgeprägt dann die Volksfestszene, in der Burmin getanzt von Jinhao Zhang und Belkin getanzt von Osiel Gouneo versuchen, den Ring vom Finger Burmins zu ziehen. Es gelingt auf vielerlei Arten nicht. Ein äußerst unterhaltsames und schön getanztes Duett. Im Akt sarkastischer Verzweiflung holt Belkin eine Motorsäge hervor. Doch nein, diese wird nicht eingesetzt, die beiden behelfen sich mit dem Verstecken des Rings unter Handschuhen.

Der abschließende Pas de deux zwischen Marja und Burmin nenne ich für mich sogleich Glückstanzduett. Ich bin fasziniert wie anders hier die Nähe der beiden Menschen im Vergleich zu Marja und Vladimir getanzt wird. Weniger romantisch ineinander verschmelzend. Der Tanz fühlt sich für mich so an, dass die jeweils andere Person als anderes zweites Wesen respektiert wird. Das ist eine partnerschaftliche, erwachsenere Liebe. Inniglich zueinander gewandt wird klar, was die beiden füreinander bedeuten.

Die musikalische Ausgestaltung

Zuerst höre ich einen vollen episch romantischen durch Streicher dominierten Orchesterklang, er erinnert mich an Filmmusik. Es folgt ein melancholisches Bandoneon-Solo. Nach diesem Solo klingt das Orchester viel moderner, ich höre mehr Schlagwerk. Dies verstehe ich als Zeichen der unterschiedlichen Zeiten von erstem und zweitem Akt.

Auch die Musik folgt dem Handlungspostulat. Flirrend, wenn Marja nicht recht ins Familienbild passt. Dramatisch drängend, wenn Vladimir und Marja es kaum erwarten können, liebend aufeinanderzutreffen. Die beschriebene tänzerische Verschmelzung wird durch ein melancholisch romantisches Solo des Bandoneons musikalisch wiedergegeben.

Konspirativ hört es sich für mich an, wenn Vladimir mit Zofe und Knecht die heimliche Hochzeit ausbaldowert. Im Sturm wird Musik mit Geräuschen pointiert verschränkt. Das flirrende wirrende Gestöber höre ich auch in den Orchestertönen. Kurze dichte Suspensespannung mit Trommelwirbel, wenn Vladimir in den Krieg zieht.

Wie in der Ouvertüre angekündigt dann durch den vermehrten Einsatz des Schlagwerks und der Bläser moderner klingend. Die humoristisch mich an Stummfilmmusik erinnernde Ringabzugsszene. Die wieder ganz filmmusikalische Happy-End-Musik des abschließenden Pas des deux.

Gavin Sutherland führt das bayerische Staatsorchester souverän. In der Musik spiegelt sich das Inszenierungsprinzip: aller Einsatz von Musik und Tanz dient der Ausprägung der Handlung.

Die Inszenierung bedient sich filmischer Elemente, Ksenia Ryzhkova hätte im Stummfilm bestimmt auch eine ebenso große Karriere hingelegt, so prägnant überzeugt mich ihre schauspielerische Leistung. Andrey Kaydanovskiy choreografiert die Handlung intelligent, kreativ, unaufdringlich, zurückhaltend, pointiert.

Er erschafft einen Abend, der zurecht im publikumsleeren Haus gegenseitiges Beklatschen von Ensemble und Orchester erfahren kann. Eine echte und tolle Teamleistung! Ich drücke die Taste „Klatschen und Bravo“ auf der Soundmaschine, die auf der Webseite zur Verfügung steht. Vollkommen irrational denke ich „Vielleicht wird das ja eingespielt im leeren Nationaltheater und die Künstler bekommen ihren verdienten Applaus zu hören“.

Frank Heublein, 18. April 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Der Schneesturm (nach einer Erzählung von Alexander Puschkin)

Musikalische Leitung           Gavin Sutherland

Choreographie                        Andrey Kaydanovskiy

Musik                                         Lorenz Dangel

Sound Design              Lorenz Dangel, Aleksandra Landsmann, Felix Trawöger

Bühne                                        Karoline Hogl

Kostüme                                  Arthur Arbesser

Licht                                          Christian Kass

Dramaturgie                          Serge Honegger

Bayerisches Staatsorchester

Solistinnen, Solisten und Ensemble des Bayerischen Staatsballetts

Marja                                           Ksenia Ryzhkova

Vladimir                                     Jonah Cook

Burmin                                       Jinhao Zhang

Belkin                                          Osiel Gouneo

Zofe / Pfänderin                     Elvina Ibraimova

Knecht / Pfänder                    Robin Strona

Priester                                       Shale Wagman

Kerzenträger                            Nikita Kirbitov, Sergio Navarro

Marjas Vater                             Matteo Dilaghi

Marjas Mutter                         Séverine Ferrolier

Vladimirs Vater                       Norbert Graf

Vladimirs Mutter                    Madison Young

Marjas Verehrer / Kriegsversehrte   Nikita Kirbitov, Sergio Navarro, Shale Wagman

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