"Die ganze Kunst- und Kulturszene in Bayreuth hat sich zusammengeschlossen"

„Die ganze Kunst- und Kulturszene in Bayreuth hat sich zusammengeschlossen“ – Festivalintendantin Sissy Thammer im Interview

Foto: Dr. Sissy Thammer © H. Wagner, Glashütten

Anders als die Richard-Wagner-Festspiele kann das Festival junger Künstler Bayreuth auch in diesem Jahr mit einem vielfältigen, wenn auch entsprechend reduzierten Programm aufwarten. Bereits seit 1950 widmet sich das Festival parallel zu den großen Opernfestspielen dem internationalen musikalischen Nachwuchs. Dr. Sissy Thammer ist seit 1986 Intendantin des Festivals junger Künstler. 1997 wurde sie für ihr Engagement von der Europäischen Bewegung Deutschland mit dem Preis „Frauen Europas“ ausgezeichnet.

Im Interview spricht Sissy Thammer über den Festivalbetrieb in Zeiten von Corona. Das Gespräch führte Jolanta Łada-Zielke in Bayreuth.

Wie ist es Ihnen gelungen, trotz allen Einschränkungen und Ängsten das 70. Festival junger Künstler Bayreuth zu organisieren?

Sissy Thammer: Als der Lockdown und der Shutdown im März kamen, waren wir bereits im sechsten Monat unseres Wirtschaftsjahres. Es war mir vollkommen klar, dass dieses Festival junger Künstler Bayreuth diese Pandemie inhaltlich überleben muss. Wir werden gefördert für unsere Projekte, und wenn wir keine liefern, entfällt unser Sinn. Das war das Grundproblem und wir haben sofort darüber nachgedacht, wie wir unserer Aufgabenstellung der Welt gegenüber nachkommen können. Es wäre möglich gewesen, dass das Festival ganz hätte ausfallen müssen; dann hätten wir das akzeptiert. Aber zunächst war unsere Kreativität gefragt. Es wäre falsch gewesen, das Festival „in der alten Form“ im Jubiläumsjahr zu organisieren. Ursprünglich hatten wir eine riesige Theatervorstellung mit Carl Orffs „Prometheus“ geplant, eine Aufführung Ludwig van Beethovens „Eroica“ und ein großes Barockkonzert. Ich dachte, wenn wir beginnen, hier Abstriche zu machen und etwas runter zu kürzen, führt uns das nicht ans Ziel. Wir haben einfach ganz schnell begriffen, dass wir die größten Veranstaltungen, Jubiläumspartys und Empfänge komplett ins nächste Jahr verschieben müssen. Das ist gelungen, weil uns viele öffentliche Institutionen und private Personen geholfen haben.

Und dann ist die Idee von „ SOL. Summer of Love“ entstanden?

Der zweite Schritt war für uns die Kreation eines ganz neuen Festivals. Wir mussten mit großer Flexibilität und Kreativität andenken, was zu dieser Zeit möglich wäre, was gewünscht und gebraucht würde. Wir sehnen uns nach Wärme, nach Gemeinsamkeit, nach Liebe – Love. So ist der Titel „Summer of Love“ entstanden. Die zweite Aufgabe war: Was können wir uns leisten, über welchen Weg können wir das machen? In dem Fall ging es um praktische Dinge. Wir haben normalerweise Jugendherbergs-Style in der Unterbringung. Dieses Mal war das nicht möglich, wir mussten eine Hotelzimmerunterbringung organisieren. Das bedeutete höhere Kosten, wir mussten anders kalkulieren. Wir haben die Probenarbeit an dem Theaterprojekt ab Juni und Juli an die Musikhochschule Hamburg ausgelagert. Die Kompositionen für unser „Bandcamp“, die gewöhnlich in Bayreuth selbst entstehen, haben wir an einzelne Künstler übertragen und dann in großen, digitalen Konferenzen zusammengeführt. Unser großer Wunsch war, das Festival zu realisieren. Heute kann ich sagen, dass der „Summer of Love“ funktioniert.

Mitwirkende am „Summer of Love“ 2020. Foto: (c) Festival junger Künstler Bayreuth

Mit Hilfe der Digitalisierung?

Der „Summer of Love“ bedeutet für uns das große International Online Folk Orchestra, digitale Ensembles und andere Online-Projekte, die zunächst in Bayreuth selbst eine geringe Auswirkung haben, weil unser Publikum gewohnt ist, in ein Konzert gehen zu können. Dann haben wir uns gefragt, was wir realisieren können. Wir haben gemerkt, dass die Menschen zwar Crossover, Jazz, Pop und arabische Musik interessant finden, sich aber nach einem klassischen Programm sehnen. Wir haben auch ein Education-Project für unsere Festspielkinder entwickelt. Es findet auch ein Symposium im Rahmen des Kultursalons statt, das das Prometheus-Projekt für nächstes Jahr vorbereitet. Zum Anlass von Beethovens 250. Geburtstag gibt es einen Vortrag über seine Musik. Das alles wollten wir zusammen gestalten. Das oberste Gebot war für uns, eine neue Gemeinsamkeit und eine Aufmerksamkeit in der Solidarität mit anderen Künstlern zu schaffen. Diese Solidarität haben wir auch hier vor Ort erfahren.

Wie viele Teilnehmer zählt das Festival dieses Jahr, real und virtuell?

In diesem Jahr gibt es 158 Teilnehmer 25 verschiedener Nationen, die lokal anwesend sind. Wenn wir die digitalen Projekte dazu zählen, sind wir sofort bei 300 bis 400 Leuten. Viele junge Menschen aus aller Welt konnten in diesem Jahr nicht nach Bayreuth kommen. Sie haben uns Videos geschickt und wir streamen unsere Konzerte zu ihnen in die Welt hinaus. Wir haben neun Streaming-Konzerte und zahllose Video-Botschaften, die uns zugesendet werden. Ein Fünftel des 70. Festival junger Künstler Bayreuth findet virtuell statt. Vier Viertel davon entstehen tatsächlich mit dem Kultursalon, mit dem Symposium, mit dem Education-Projekt, mit den klassischen Konzerten, mit dem Bandcamp und mit dem Barock-Theater zusammen.

Gibt es offizielle Vorschriften, wie viele teilnehmen dürfen?

Nein. Es gibt nur sehr genaue Vorschriften vom Ministerium, wie viele Künstler auf der Bühne gleichzeitig auftreten dürfen und sie müssen einen Mindestabstand voneinander einhalten. Die Sänger brauchen eine Glaswand vor sich oder fünf Meter Abstand zum Publikum. Wir haben eine Plexiglaswand zur Verfügung und halten den Abstand und die Hygieneregeln ein.

„Jeder Ton zeigt eine Verbindung zu einem Teil der Seele“ – Ein Gespräch mit dem Ensembleleiter Vladimir Ivanoff

Unsere virtuellen Projekte sind das International Online Folk Orchestra und das Tutorial for Electric Strings. Wir haben auch so genannte „Distant Duos“ and „Quarantine Quartets”. Das ist eine lustige Bezeichnung dafür, dass der Professor Rudolf Haken von der Music University of Illinois mit Quartetten und Quintetten über die Entfernung zusammenarbeitet. Ab Mitte August wollen wir gerne mit diesen „Distant Duos“ und „Quarantine Quartets“ eine kleine Tournee machen. Das heißt, wir werden mit der Verfilmung des Projekts an die Orte gehen, an denen diese jungen Leute eigentlich aufgeführt hätten: nach Brand in der Oberpfalz (der Geburtsort von Max Reger), nach München, Nürnberg, und ins Kloster Speinshart. Eigentlich sind wir schon dazu bereit, aber die Lokalitäten vor Ort sind noch zum Teil geschlossen und die Bewohner im Urlaub. Und so werden wir die Idee dieses digitalen Orchesters noch im August und September hier in die Region tragen.

Bleiben die Sponsoren und Förderer dabei und unterstützen nach wie vor das Festival?

Die Förderer sind im Boot geblieben. Viele haben gesagt: Naja, das Festival ist jetzt kleiner, wir machen eine etwas kleinere Spende. Aber im Großen und Ganzen ist niemand rausgesprungen. Wir haben natürlich erhebliche Einbußen, weil wir keine Einnahmen aus Veranstaltungen haben.

Es gibt nur eine Spende nach jedem Konzert oder Vortrag?

Ja, und wir dürfen nur wenige Gäste einladen, auch weil die Räume sehr beschränkt sind.

Denken Sie, dass die Menschen jetzt Angst haben, die Konzerte zu besuchen?

Wir merken es deutlich daran, dass unsere Konzerte erst zur Hälfte ausgebucht sind. Die Menschen zögern, ob sie kommen sollen oder nicht. Wir merken aber auch, dass das Streamingangebot immer mehr wahrgenommen wird. Viele Menschen über sechzig sagen: Wir gehen jetzt in keine Menschenansammlung, aber wir schauen uns ein Streaming-Konzert in einer Digital Concert Hall an. Man muss auch bedenken, dass wir erst ziemlich spät an die Öffentlichkeit gehen konnten. Wir haben gleichzeitig das Festival und die Werbung dafür begonnen. Manche Leute haben erst dann begriffen, dass wir das Festival überhaupt realisieren konnten.

Intendantin Sissy Thammer mit Festivalteilnehmern beim Hügelpicknick.
Foto: (c) Festival junger Künstler Bayreuth

Ist trotz weniger Teilnehmer diese tolle Stimmung immer noch zu spüren, die immer während des Festival junger Künstler Bayreuth herrscht?

Das spüre ich, Gott sei Dank, auch! Wir haben hier Künstler, die uns aus den letzten Jahren kennen und sie wissen, dass wir sonst abends einen gemütlichen Biergarten oder eine Party organisieren, was dieses Jahr nicht der Fall ist. Dennoch gefällt es ihnen hier. Ich glaube, dass das junge Team, das die Künstler betreut, für diese warme Atmosphäre sorgt, trotz aller Corona-Einschränkungen. Die Studierenden, die zum ersten Mal bei uns sind, kennen es nicht anders oder besser, fühlen sich aber durch die enge Betreuung von uns auch wohl. Ich selbst habe bisher von nichts Negativem erfahren. Natürlich spüre ich eine vollkommen andere Stimmung. Jeden Abend gehe ich nämlich heim um 21:30 Uhr. Normalerweise bin ich im August, während des Festivals, nie so früh nach Hause gegangen! Ich bin in den Biergarten oder in die Heimleitung gekommen und habe mit meinen Freunden mit einem Gläschen Wein angestoßen. Das bleibt uns leider in dieser Zeit verwehrt, aber wir halten uns sehr konsequent daran.

Außer im Zentrum finden die Konzerte auch an anderen Orten in Bayreuth statt: im Steingraeberhaus, in der Stadtkirche, an der Kulturbühne Reichshof. Kommen die Besitzer oder Verwalter dieser Institutionen Ihnen entgegen?

Ja, sie kommen uns mit Preisen entgegen und helfen bei der Gestaltung. Die ganze Kunst- und Kulturszene in Bayreuth hat sich zusammengeschlossen. Sie wollen sich auch ohne Wagner Festspiele zusammenhalten und das tun sie auch. Ich muss wirklich sagen, wir haben eine große Unterstützung von ihnen.

Eines der Konzerte von Hansjörg Albrecht und Christian Benning heißt „Richard Wagner vermisst seine Festspiele“. Es bezieht sich also auf die abgesagten Festspiele?

Den Titel finde ich sehr schön. Ich muss sagen, das war ein Erdbeben für Bayreuth, als die Wagner-Festspiele abgesagt wurden. Im Moment sind wir alle sehr in Gedanken bei Frau Professor Katharina Wagner und wünschen ihr gute Genesung. Ohne Festspiele verliert Bayreuth seine Bedeutung. Natürlich gibt es immer ein wirtschaftliches Argument, aber das wichtigste ist die Seele, die Besonderheit und der weltweit einmalige Charakter dieser Veranstaltung. Dank diesem „Erdbeben“ haben wir jedoch viel gelernt. Als ich darüber mit Hansjörg Albrecht gesprochen habe, hat er diese Stimmung sofort aufgenommen und sagte: Wir vermissen diese Festspiele, deswegen mache ich ein Orgel- und Percussion-Konzert mit Transkriptionen der Werke Wagners.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Jolanta Lada-Zielke, 8. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Ein Beitrag über das Konzert „Richard Wagner vermisst seine Festspiele“ zusammen mit einem Interview mit Hansjörg Albrecht erscheint demnächst auf klassik-begeistert.de.

Voyager-Quartet, Beethoven, Wagner Villa Wahnfried Bayreuth

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