Die Passagierin © Jochen Quast
Die Passagierin
Oper in zwei Akten von Mieczysław Weinberg
Libretto von Alexander Medwedjew nach Zofia Posmysz
Takahiro Nagasaki, Dirigent
Bernd Reiner Krieger, Inszenierung
Chor und Extrachor des Theaters Lübeck
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Adrienn Miksch, Sopran,
Marlene Lichtenberg, Mezzosopran
Konstantinos Klironomos, Tenor
Jacob Scharfman, Bariton
Theater Lübeck, Großes Haus, 12. Oktober 2024 PREMIERE
von Dr. Andreas Ströbl
„Ich meine, wir sollten jetzt mit der Naziriecherei Schluß machen… Denn verlassen Sie sich darauf: wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört.“ Mit diesen Worten setzte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer in einer Sitzung des Bundestages am 22. Oktober 1952, also 11 Jahre vor Beginn der Auschwitzprozesse, offiziell für ein Ende der Entnazifizierung ein. Klar, wenn der allergrößte Teil der Bevölkerung (es wird hier bewusst das Wort „Volk“ vermieden) eines Landes entweder ein mörderisches Regime unterstützt, gutheißt oder zumindest klaglos duldet, dann hieße, die Schuldigen aus dem Staatsdienst zu entfernen, die Organisation eines ganzen Staates lahmzulegen. Das war der alliierten Militärverwaltung klar; die wenigsten Deutschen waren explizit keine Nazis bzw. Regimegegner.
Wer kennt diese Sprüche nicht aus seinem Familien- und Bekanntenkreis? „Irgendwann muss auch mal Schluss sein mit dieser Judensache“, aktuell überboten von „Guck doch mal, was die Israelis heute machen!“
Bemerkenswert, dass ein Ende der Erinnerungskultur immer von der Täterseite gefordert wird oder Aspekte vermengt werden, die nichts miteinander zu tun haben. Bittere Berühmtheit hat das Zitat von Zvi Rex, einem israelischen Psychoanalytiker, erlangt: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“. Ja, wenn einem die eigenen Taten solche Schuld auferlegen, dann ist das eben einfach zuviel und das Opfer muss ein zweites Mal mindestens mundtot gemacht werden, damit das erträglich ist.
„Das“ – wir sprechen hier von der industriell, ja wissenschaftlich betriebenen Vernichtung einer Menge von Menschenleben, die in ihrer Dimension zu abstrakt ist, um sie begreifen zu können. Ich besuchte 1986 Israel, zu dieser Zeit lebten dort rund sechs Millionen Menschen. Damals begann ich zu erahnen, was der Holocaust wirklich war, nämlich die Auslöschung der Bevölkerung eines ganzen Landes, das brutale Ermorden von sechs Millionen Individuen, deren persönliche Lebensgeschichten unter der unglaublichen Zahl ebenfalls zu versinken drohen.
Also muss man die Geschichten dieser Individuen erzählen, um sie der Anonymität zu entziehen, Geschichten von Opfern und Tätern. Genau das tut „Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg, zumal in der Inszenierung von Bernd Reiner Krieger am Theater Lübeck, das die Oper am 12. Oktober 2024 erstmalig im norddeutschen Raum auf die Bühne brachte.
Dass dieses Werk 2010 erstmals szenisch aufgeführt wurde, liegt daran, dass die 1968 vollendete Oper des 1939 aus Polen in die Sowjetunion geflüchteten Komponisten im Stalin-Russland nicht gezeigt werden durfte. Die Konzentrationslager der Nazis erinnerten offensichtlich zu stark an das Gulag-System Stalins.
Um es gleich zu sagen: Die Lübecker Produktion ist in ihrer erschütternden Wahrhaftigkeit, kongenialen inszenatorisch-dramaturgischen Umsetzung und der Leistung sämtlicher Mitwirkenden ein kunstgewordenes Mahnmal in einer Zeit, in der der Brecht’sche „fruchtbare Schoß“ des Faschismus erneut seine braune Brut gebiert.
In zwei Welten gewährt die Vertikalbühne von Hans Kudlich Einblicke: Auf einem Luxusliner reisen ein deutscher Botschafter und seine Frau in den frühen 60er Jahren von Deutschland nach Brasilien, Deck und Kabine zeigen das „Jetzt“. Der Bauch des Schiffes, gleichsam in der Ebene der erinnerten Vergangenheit, öffnet die Lagertore in die Hölle von Auschwitz. Einzig die Betonmasten, an denen die Lampen zur Beleuchtung des Lagerzauns hängen, und die Halterungen für das Rettungsboot haben die gleiche Form und schaffen eine diskrete Verbindung der beiden Welten.
Zwar sind die Kostüme von Ingrid Leibezeder an Häftlingskleidung und Uniformen aus der NS-Zeit angelehnt, spielen aber nicht mit zu lauten Applikationen wie Hakenkreuzbinden oder dem gestreiften Drillich. Das macht sie uns und der Jetztzeit noch nahbarer. Das Licht von Falk Hampel beleuchtet grell, verdunkelt unheimlich, schafft finstere Atmosphären und solche von vermeintlich hell-leuchtender Unbeschwertheit.
Weinbergs Musik ist von bezwingender Dichte und Plastizität, sie untermalt Emotionen und Handlungsabläufe, spielt mit Dynamiken und Tempi von innig-intim bis brutal-schlagend; sie kehrt das Innerste nach außen. Im Zitieren von jazzigen Elementen und einer unglaublichen Klangfarbigkeit in der Instrumentierung, vor allem mit vielseitigem Schlagwerk, erinnert ihr Duktus manchmal an den Freund Weinbergs, Dmitri Schostakowitsch, aber sie ist doch völlig eigenständig und von einer soghaften Intensität.
Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter der Leitung des Ersten Kapellmeisters Takahiro Nagasaki bringt in einzelnen Instrumenten ebenso wie in Instrumentengruppen all die klagenden, hämmernden, schreienden, liebevollen und sehnsüchtigen Töne vollendet zum Ausdruck. Der Dirigent wird im persönlichen Gespräch auf der Premierenfeier von seiner Idee sprechen, das Stück in Japan uraufzuführen – ein Projekt, das in Japan, dessen Rolle im zweiten Weltkrieg größtenteils durch die Atomangriffe auf Hiroshima und Nagasaki auf einen Opferstatus traumatisch reduziert ist, wesentliche Aspekte der gemeinsamen Achsenmacht-Geschichte dort vermitteln würde.
Chor und Extrachor des Theaters Lübeck unter Jan-Michael Krüger geben den anonymisierten und eben auch aus der Masse heraustretenden Stimmen beeindruckende Stärke und machen den Lebenswillen gegen die Mördermaschinerie ergreifend spürbar.
Solistisch wartet der Abend durchweg mit Glanzleistungen auf, allen voran mit denen der beiden Hauptdarstellerinnen Marlene Lichtenberg als Lisa Franz, deren Tätigkeit als Aufseherin im KZ Auschwitz durch die totgeglaubte Mit-Passagierin Marta, verkörpert von Adrienn Miksch, an die Oberfläche kommt. Gerade das Spiel mit den beiden Ebenen des Verdrängens, oberflächlicher Lebenslustigkeit und dem Nicht-Verstehen-Wollen einerseits und der Rolle als vermeintlich empathischer Wärterin, die mit den Gefühlen ihrer Opfer spielt, andererseits – das ist eine grandiose Leistung der Mezzosopranistin, die immer wieder ins Parlando kommt, was der Aufseherinnen-Rolle ungemeine Glaubhaftigkeit verleiht. Diese Handlangerin tötet aus dem Hinterhalt und macht sich nicht selbst die Hände schmutzig – ihre hektische Handwaschung nach dem Geständnis gegenüber ihrem Ehemann gemahnt an die des Pontius Pilatus.
Der Sopran von Adrienn Miksch ist weiblich-füllig, kann aber auch zart und schmiegsam sein. Ihrem Stolz und Lebenswillen gibt sie eine zu Herzen gehende Authentizität. Martas letzter, sehr langer Ton im Epilog scheint in die Ewigkeit zu gleiten und die Notwendigkeit einer Erinnerung heraufzubeschwören – niemals vergessen, niemals relativieren, niemals aufhören, wachsam zu sein. Die Bescheidenheit der Sängerin beim begeisterten Schlussapplaus beweist, dass sie allein der Rolle und ihrer Botschaft dient.
Walter, der Ehemann Lisas, ist der Tenor Konstantinos Klironomos (neu im Lübecker Ensemble), der ebenso viril auftritt wie erschüttert seine Karriere durch die Aufdeckung von Lisas Vergangenheit gefährdet sieht; er versucht aber auch, sie zu verstehen. Kann man aber verstehen, wie ein Mensch aufgrund der Zurückweisung scheinbarer Hafterleichterungen das Glück eines liebenden Paares zerstört und beide der Todesmaschinerie übergibt?
Tadeusz, dem Verlobten Martas, verleiht Jacob Scharfman mit kraftvoll maskulinem Bariton trotz aller Demütigungen ein selbstbewusstes Format voller menschlicher Größe. Dass er anstatt des vom Lagerkommandanten geforderten Walzers die Chaconne aus der Bachpartita d-Moll BWV 1004 auf der Geige spielt, ist das Symbol für eine Menschlichkeit, die keine Nationalismen kennt. Diese Musik lebt weiter, auch wenn der SS-Mann (Viktor Aksentijević) die unbezahlbare Geige zertritt, bevor er den Künstler und Liebenden eiskalt abknallt. Ihm zur Seite stehen zwei Schergen, die über die „Wissenschaft der Menschenvernichtung“ schwadronieren (Changjun Lee und Wonjun Kim).
Um den zu vernichtenden Massen die Individualität zu nehmen, wurde den Insassen eine Nummer auf den Unterarm tätowiert. Nummern anstatt Namen; die Zahlenfolgen mussten die Häftlinge sofort auswendig lernen, um zu wissen, wann sie damit aufgerufen wurden – ins Gas oder zur Zwangsarbeit.
In der „Passagierin“ erhalten einige der weiblichen Häftlinge ihre Persönlichkeit zurück und so agieren Katja (Natalia Willot), Krystina (Frederike Schulten), Vlasta (Aditi Smeets), Hannah (Delia Bacher), Yvette (Elizaveta Rumiantseva) und Bronka (Julia Grote) sowie die alte Frau (Ina Heise) als Frauen mit unterschiedlicher Herkunft, Leidensgeschichte, Träumen und Hoffnungen. Die Mitwirkenden sind teils Mitglieder des hauseigenen Opernstudios
Auch die Nebenrollen an Deck, wie der Steward (Mark McConnell) und ein älterer Passagier (Chul-Soo Kim) oder die im KZ, wie die Oberaufseherin (Hilli Eichenberg) und der Kapo (Ulrike Hiller), hat die Regie durchweg in ihren ganz eigenen Charakteren beleuchtet. Das Textverständnis ist bei allen Mitwirkenden einwandfrei und die Übertitel sind eigentlich nur bei den nichtdeutschen Passagen notwendig.
Über diese phantastische Produktion ließe sich problemlos noch seitenweise berichten und trotz des aufwühlenden Themas könnte man all die Details und großen Linien mit achtungsvoller Beschreibung begeistert würdigen. Mehr diente dieser Inszenierung, wenn möglichst viele Menschen sie sähen, das Unfassbare hörten und sich zum Nicht-Vergessen- und Verdrängen-Wollen anstecken ließen.
In den 70er und 80er Jahren wurden wir im Geschichtsunterricht mit den Schwarzweiß-Filmen von Bergen ausgemergelter Leichen konfrontiert, was bei vielen bis heute nachwirkt, bei manchen aber auch zu Abwehrreaktionen führte. Die Lübecker „Passagierin“ jedoch dringt sofort und unmittelbar in die Seele und so mag man trotz der Länge von drei Stunden hoffen, dass möglichst viele Schulklassen sie besuchen werden. Ein vielseitiges Rahmenprogramm mit Filmen, Liederabenden, Konzerten und Vorträgen vertieft die Problematik.
Dies ist keine übliche Kritik oder Besprechung. Es ist eine Verneigung vor einer ganz großartigen Gesamtleistung.
Die nächsten Vorstellungen sind am 19. Oktober, 2. November und 20. Dezember. Wem es möglich ist, der sollte diese Produktion unbedingt sehen.
Dr. Andreas Ströbl, 14. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Photos: Jochen Quast
Lieber Herr Dr. Ströbl,
Ihre Besprechung beeindruckt mich sehr.
Schon bei der Veröffentlichung des Saisonprogramms 24/25 der Oper Lübeck hatte ich mir diesen Termin fest vorgenommen. Nun erst recht!
Als ich vor einigen Jahren Israel bereiste, lief „Die Passagierin“ an der Oper in Tel Aviv. Leider war mir ein Besuch dort damals nicht möglich. Aber im Juli diesen Jahres konnte ich das an der Bayerischen Staatsoper nachholen und war auch hier schon von Thema und Musik sehr bewegt.
Angelika Evers