Annelie Sophie Müller (Anna, Tochter von Mahler) © Barbara Pálffy / Volksoper Wien
Eine musikalisch wie szenisch bemerkenswerte Uraufführung hat der Volksoper einen großen Publikumserfolg gebracht. Die Oper “Alma” von Ella Milch-Sheriff erzählt die Geschichte der Alma Mahler-Gropius-Werfel und die ihrer Kinder neu und scheut auch vor heiklen Themen nicht zurück.
Ella Milch-Sheriff, “Alma”
Libretto: Ido Ricklin
Übersetzung aus dem Hebräischen: Anke Rauthmann
Orchester, Chor und Zusatzchor der Volksoper Wien
Musikalische Leitung: Omer Meir Wellber
Regie: Ruth Brauer-Kvam
Bühnenbild: Falko Herold
Kostüme: Alfred Mayerhofer
Licht: Alex Brok
Choreographie: Florin Hurler
Video: Martin Eidenberger
Choreinstudierung: Holger Kristen
Volksoper Wien, Uraufführung, 26. Oktober 2024
von Dr. Rudi Frühwirth
Das schillernde Leben der Alma Schindler einmal radikal anders erzählt, das ist der Stoff der Oper “Alma” der israelischen Komponistin Ella Milch-Sheriff. Das Libretto in hebräischer Sprache stammt von Ido Ricklin; komponiert wurde aber die Übersetzung ins Deutsche von Anke Rauthmann.
Die Oper dekonstruiert den gängigen Blick auf Alma als die “Muse der vier Künste” – Musik, Malerei, Architektur und Literatur. Im Vordergrund steht vielmehr die Frau, die vier Kinder verloren hat, drei durch Krankheit, eines durch Tötung im Mutterleib. Und auch die Frau, die gezwungen von ihrem ersten Mann auf ihre künstlerischen Ambitionen verzichten musste. Die tragische Geschichte wird – ein genialer dramaturgischer Einfall von Ido Ricklin – in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge erzählt. Sie beginnt also mit dem Begräbnis der vergötterten Tochter Manon Gropius im Jahr 1935, und schreitet dann zurück bis zur Verlobung der 22-jährigen mit dem 41-jährigen Komponisten und Hofoperndirektor Gustav Mahler im Jahr 1901.
Der Hauptfigur Alma wird in der Oper als ständige Begleiterin die einzige überlebende Tochter Anna Mahler zur Seite gestellt, die sie immer wieder mahnt, ihren eigenen Weg zu gehen und sich vor Beziehungen zu hüten, die in Unterwerfung und Selbstaufgabe münden. Die Oper spart auch problematische Aspekte der Persönlichkeit Almas nicht aus, etwa ihren – trotz zwei Ehen mit jüdischen Künstlern – offen ausgesprochenen Antisemitismus. Ob ihr Lebensweg grundlegend anders verlaufen wäre, wenn Mahler sie als Komponistin unterstützt hätte, scheint mir allerdings zweifelhaft.
Die Musik der Oper ist stilistisch den wechselnden Stimmungen und Zeiten der Handlung klar angepasst, ist aber keineswegs eklektisch, trotz Zitaten aus Mahlers Symphonien und Bergs Violinkonzert. Sie ist stark und expressiv vor allem in den dramatischen Szenen der ersten vier Akte – das Begräbnis von Manon, der tragische Tod des Sohns Martin als Kleinkind, die exzessive Beziehung mit Oskar Kokoschka, die Beendigung der daraus resultierenden Schwangerschaft, der unerwartete Verlust der Tochter Maria, nicht lange, nachdem Mahler die “Kindertotenlieder” komponiert hat. Der letzte Akt, die Verlobung mit Mahler, also das “happy beginning”, das aber schon das folgende Unheil in sich trägt, ist weniger intensiv gestaltet und fällt musikalisch etwas weniger spannend aus. Hohes Lob gebührt dem Dirigenten Omer Meir Wellber, der das Orchester und den Chor der Volksoper zu einer tadellosen, ja mitreißenden Leistung anspornte.
Die ausschweifende Inszenierung von Ruth Brauer-Kvam spart nicht mit Irritationen, am extremsten im dritten Akt, mit der drastischen Darstellung der Tötung des ungeborenen Kinds von Oskar Kokoschka, dem rücksichtslos fordernden Maler, der sich nach der Trennung seinen Fetisch von Alma, ein überlebensgroße Puppe schafft. Auch an die bestürzend hohe Kindersterblichkeit der damaligen Zeit wird immer wieder szenisch erinnert. Klarerweise fordert die Regie auch beachtlichen körperlichen Einsatz, vor allem von Annette Dasch als Alma, die sich im Lauf der Oper von der schon gealterten Frau zum kaum erwachsenen Mädchen verjüngen muss. Die Verwandlung wird sinnfällig durch die großartigen Kostüme von Alfred Mayerhofer. Annette Dasch spielt Alma ohne Scheu, ja fast exhibitionistisch bis zu Selbstaufgabe. Auch gesanglich ist sie großartig. Besonders beeindruckt ihre Technik, Töne zunächst ohne Vibrato perfekt anzusetzen, aber dann warm einschwingen zu lassen. Eine bessere Interpretation der Rolle kann ich mir kaum vorstellen.
Ihr ebenbürtig ist Annelie Sophie Müller als Tochter Anna. Sie ist stets gegenwärtig in ihrem Bildhaueratelier mit einer großen Büste ihres Vaters. Im Bühnenbild von Falko Herold umrahmt es die gesamte Handlung. Müllers jugendlich klare Stimme ist der Rolle perfekt angemessen. Sängerisch und darstellerisch höchst zufriedenstellend sind auch die verstorbenen Kinder: Lauren Urqhart als Manon Gropius, der Countertenor Christopher Ainslie als Werfels Sohn Martin, und Hila Baggio als Kokoschkas ungeborenes Kind. Außerordentlich entzückend ist die kleine Victoria Schnut als Alma und Gustav Mahlers früh verstorbene Tochter Maria.
Von den vier Männern wird Walter Gropius von einem Tänzer dargestellt, um die räumliche Natur seiner Kunst, der Architektur, zu betonen. Florian Hurler tanzt präzise und sachlich. Martin Winkler ist Oskar Kokoschka: mit seiner markanten, etwas rauen Stimme ist er eine ausgezeichnete Verkörperung der ungezähmten, ungehemmt fordernden, narzisstischen Person des Malers. Der Schriftsteller Franz Werfel wird von Timothy Fallon gespielt und gesungen. Verblüffend ähnlich in Statur und Physiognomie, ist er ein exzellenter Interpret, der neben atemberaubend hohen Tönen auch darstellerisch recht Gewagtes zu leisten hat. Die zwiespältig angelegte Rolle von Gustav Mahler schließlich wird von Josef Wagner gesungen. Einerseits ist er der große Dirigent und Komponist, andererseits der unnachsichtige Ehemann, der Almas musikalische Ambitionen im Keim erstickt. Seine Rolle ist von der Komponistin sehr vornehm, sehr zurückhaltend gestaltet. Wagner hat daher nicht viele Möglichkeiten, Mahlers zweifellos faszinierende Ausstrahlung präsent zu machen.
Mit der Uraufführung von “Alma” hat die Volksoper eine musikalisch wie szenisch beachtliche Produktion auf die Bühne gebracht. Die Protagonistin Annette Dasch wurde mit Ovationen gefeiert, die anderen Sängerinnen und Sänger sowie Dirigent und Orchester mit begeistertem Beifall bedacht. Auch beim Regieteam regte sich kaum Widerspruch. Die Volksoper kann somit einen veritablen Publikumserfolg verzeichnen.
Dr. Rudi Frühwirth, 27. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Alma Mahler-Gropius-Werfel, geb. Schindler: Annette Dasch
Anna, Tochter von Mahler: Anneli Sophie Müller
Manon, Tochter von Gropius: Lauren Urqhart
Martin, Sohn von Werfel: Christopher Ainslie
Das Ungeborene, Kind von Kokoschka: Hila Baggio
Maria, Tochter von Mahler: Victoria Schnut
Gustav Mahler: Josef Wagner
Walter Gropius: Florian Hurler
Franz Werfel: Timothy Fallon
Oskar Kokoschka: Martin Winkler
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