Fotos (c) Ida Zenna
Oper Leipzig, 12. Februar 2022
Faust
Ballett von Edward Clug
Milko Lazar (Musik)
Deutsche Erstaufführung
Gewandhausorchester Leipzig
Matthias Foremny Musikalische Leitung
von Sandra Grohmann
Coronabedingte Spielplanänderung ohne Reue: Diesen Mephisto muss man gesehen haben, diese Schlange, wie sie sich windet, duckt und würgt. Ob das Mädchen in der ersten Reihe der Oper Leipzig, vermutlich wegen der angekündigten „Cenerentola“ mit der Mama in die Oper gekommen, den Schrecken unbeschadet überstanden hat? Explizite Provokationen, die einen Besuch des Balletts „Faust“ von Milko Lazar (Musik) und Edward Clug (Choreografie) erst für Volljährige angeraten erscheinen lassen würden, hielt der Abend jedenfalls nicht bereit. Und das war ein ausgesprochenes Glück. Boshaftigkeit, Erotik, Weltschmerz und die Frage nach dem Sinn des Seins brauchen keine brachialen Bilder. Wer es kann, bringt sie in intelligenterer Weise auf die Bühne.
Edward Clug kann, und wie. Er reduziert den Faust nicht auf die Gretchen-Story, hält sich trotz der eingängigen Bilder, die er elegant ineinander übergehen lässt, nicht mit Rührseligem auf. Gleich zu Beginn wie ein antiker Chor der Tanz der schwarzen und weißen Engel, in den ein verzweifelter alter Faust tapert. Der fährt seine Bibliothek im Rollstuhl durch die Gegend und fasst so die vergebens gestellte Frage danach, was die Welt im Innersten zusammenhält, mit einem einzigen Bild zusammen.
Seine Bücher entreißen ihm kurz darauf seine tumben, uniformierten Studenten (unisex das Corps de Ballet in kurzen Hosen), und er nimmt selbst in seinem Gefährt Platz.
Mephisto hingegen benötigt außer seinem Pudel (wie das umgesetzt wird, spoilere ich hier nicht) keine Requisiten, um seine Figur zu zeichnen. Seine Geisthaftigkeit übersetzt er unmittelbar in Tanz. Wie der gefallene Engel sich windet – über Faust hinschlängelt – kopfüber den Rollstuhl passiert- überall und nirgends ist: Der Geist, der stets verneint, er scheint hier tatsächlich körperhaft-körperlos. Hat sich jemals wer gefragt, wie eine solche Doppelnatur aussehen könne? Edward Clug liefert die Antwort.
Auch Gretchen und Faust bemühen keines der ermüdenden Klischees, um augenfällig zu machen, was los ist. Eine einfache hölzerne Bank trennt und vereint die beiden synchron im Liegen tanzenden Figuren (sie oben, er unten, falls es jemand wissen möchte: das heißt, sie auf der Bank und er unter der Bank). Vielleicht kann nur Tanz das leisten: Körperlichkeit zu zelebrieren und zugleich (scheinbar) aufzuheben. Wenn das nicht erotisch ist.
Spannungsvoll das Verhältnis von Bühne und Orchestergraben. Zeitgenössischen Ansätzen folgend hätte das Gewandhausorchester unter Matthias Foremny durchaus – jedenfalls in Teilen – aus der Versenkung geholt werden dürfen. Das gilt insbesondere, weil die Compagnie die Musik mit akustischen Elementen ergänzt: Fußstampfen, Messerklingen, Flügelschlagen ragen musikalisch passend, aber nicht immer präzise in die stimmungsvolle minimal music aus dem Off. Tänzer sind keine Musiker, das ist völlig ok. Am Zusammenspiel darf indes noch ein wenig gefeilt werden, damit es die mitreißende Wirkung des Gesamtkunstwerks zusätzlich unterstützt.
Ein Wort noch zu den exquisiten Kostümen. Erst kürzlich habe ich mich mit einer Freundin angesichts der Balletteinlagen zum Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker darüber ausgetauscht, ob Tänzer lange Kleider tragen sollten. Die Engel im Faust zeigen in idealtypischer Weise, wie das funktionieren kann: Hier tanzen die aus dichten fließenden Stoffen gefertigten Kleider mit. Sie entfalten eigene Bewegungen. Auch die übrigen Kostüme unterstützen die Choreographie. Seien es Mephistos rote Turnschuhe an gestreckten Füßen oder ganz extreme Plateaus im Rausch der Walpurgisnacht. Seien es die über die Bühne schleimenden Schnecken oder die Anzüge von Engel oder Sybille. Oder Schweine, Motten, Hexendiener. Bis hin zu außergewöhnlichen Schuhen à la Lady Gaga trägt jedes einzelne Kleidungsstück zum Gelingen jedes einzelnen Bildes bei. Wunderbar!
Beeindruckend schließlich, dass selbst die für diese spontane Aufführung eingesprungene zweite Besetzung die überaus reichhaltige Choreografie Funken sprühen lässt. Sie hätte plangemäß erst am 1. April 2022 übernehmen sollen. Wer die Premierenbesetzung erleben möchte, hat dazu am 19. März 2022 noch Gelegenheit (bei ausverkauften Vorstellungen lohnt übrigens immer der Blick in die vorbildlich organisierte Ticketbörse der Oper Leipzig – ich wünschte, viel mehr Häuser böten diesen Service an).
Reklame muss man indes nicht machen – die Premiere war umjubelt und auch der dritte Abend provozierte standing Ovations.
Sandra Grohmann, 13. Februar 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Faust Marcelino Libao
Mephisto Andrea Carino
Gretchen Natasa Dudar
Marthe Ester Ferrini
Sybil Caetana Silva Dias
Valentin Carl van Godtsenhoven
Wagner Landon Harris
Ein Engel Madoka Ishikawa
Bühne
Marko Japelj
Kostüme
Leo Kulaš
Video
Tieni Bukhalter