Giulio Cesare © Richard Hubert Smith
Es fällt nicht ganz leicht, die Emotionen zu schildern, die den Zuschauer angesichts dieser phänomenalen Inszenierung befallen mögen: Der Atem stockt, die Tränen fließen. Das mag sentimental oder übertrieben klingen, aber es besteht kein Zweifel: Diese Aufführung von Händels bester Oper im Herzen seiner Wahlheimat England, inmitten der English Countryside im üppig-grünen East Sussex, war selbst für das mit so vielen brillanten Inszenierungen glänzende Glyndebourne ein denkwürdiges Ereignis!
Georg Friedrich Händel, Giulio Cesare
The Glyndebourne Chorus
Orchestra of the Age of Enlightenment
Dirigent: Laurence Cummings
Inszenierung: David McVicar
Bühne: Robert Jones
Kostüme: Brigitte Reiffenstuel
Choreographie: Andrew George
Licht: Paule Constable
Glyndebourne, 24. Juni 2024
von Dr. Charles E. Ritterband
Am 21. Juni gab es die „Zauberflöte“ von Wolfgang Amadeus Mozart in einer wahrhaft bezaubernden Inszenierung (Barbe&Doucet), welche das Geschehen ebenso witzig wie intelligent in die Großküche eines altmodischen Hotel-Restaurants mit allen freimaurerischen Hierarchien, Geheimzeichen, Symbolen und Ritualen in die kulinarische Sphäre transponiert – großartig.
Demnächst ist die gefeierte „Merry Widow“ – mal sehen, ob die Engländer den Lehár samt österreichisch-ungarischem Operettenschmalz auf eine englische Bühne in englischer Landschaft verlagern können: Kein Zweifel, Glyndenbourne schafft auch dies.
Am 24. Juni war Händels Giulio Cesare auf dem Programm, das Glanzstück zweifellos im Repertoire dieses renommierten und konsequent ausverkauften Hauses mit dem traditionellen Picknick inmitten der idyllischen Parklandschaft um das jahrhundertealte Landhaus und den schlicht-eleganten Rundbau des Opernhauses. Übrigens geht die Besitzerfamilie Christie, welche seit 90 Jahren hier die Tradition sommerlicher Opernfestspiele in erster Qualität pflegt auf Daniel Christin, „a Swiss of obscure origins“ zurück, der seinen Namen zu Christie anglifizierte.
Ein genialer Magier der Opernbühne
Doch zurück zu diesem glanzvollen „Cesare“: Es ist keineswegs übertrieben, den schottischen Regisseur David McVicar als genialen Magier der Opernbühne zu bezeichnen. Sämtliche Inszenierungen, die ich von diesem 58-jährigen schottischen Regisseur sehen durfte – vom „Rigoletto“ in den finnischen Opernfestspielen Savonlinna bis hin zu seinen Arbeiten an der New Yorker Met, in Tokyo, an der Mailänder Scala und der Londoner Royal Opera – waren schlicht fantastisch, ja atemberaubend. So auch dieser Giulio Cesare in dieser 50. Aufführung seiner Inszenierung und in mehrfacher Wiederaufnahme.
Es ist großartig, wie es McVicar versteht, Dramatik mit Humor, perfekte Ästhetik mit konsequenter Erzählkunst zu verschmelzen. Seine Regiearbeit glänzt mit zahllosen intelligenten, oft witzigen und stets psychologisch stimmigen Details – von den kleinsten bis hin zu den dramatischen, den tragischen großen Gesten. Sein „Giulio Cesare“ ist opulent, unterhaltsam und berührend – Bühnenbild und die Kostüme sind gleichermaßen phantastisch, voll von stimmigen, humorvollen Details:
So das barocke Meer im Hintergrund, bestehend aus langsam bewegten Rollen als Wogen, auf denen Schiffe fahren: zuerst sind es Segelschiffe, dann Schlachtschiffe der Royal Navy aus dem 1. Weltkrieg, über denen Zeppeline segeln – und am Ende kreuzt gar die „Titanic“ übers Meer…
Keine Einzelheit ist zu geringfügig für diesen Großmeister der Regiekunst, nichts ist irrelevant – und man denkt an die vielen Selbstdarsteller unter den heutige Regisseuren mit ihrer oft sinnlosen, dümmlichen, ja allzu oft geradezu ärgerlichen Verballhornung schöner Opern.
Viktorianische Kolonialmacht und orientalische Märchenpracht
McVicar transponierte die Handlung ins viktorianische England – was ästhetische Akzente bewirkt und zu überaus komischen Effekten führt: Das militärische Gefolge Caesars besteht aus rot uniformierten Soldaten mit Tropenhelmen, die sich bisweilen im Takt der so enorm rhythmischen Musik Händels bewegen – ein Zitat der umwerfenden Komik der so typisch englischen Operetten von Gilbert&Sullivan, hier insbesondere „Pirates of Penzance“.
Das Bühnenbild in raffinierter perspektivischer trompe-l’oeil – Dreidimensionalität zeigt abwechselnd den Innenraum eines englisch-kolonialen Palasts oder „Country Houses“ in eleganter aber nüchterner Architektur – und als extremen Kontrast das farbenfrohe, mit Seidenvorhängen bespannte und bunten Lampen beleuchtete, zeltartige Intérieur von Kleopatras Palast.
Der Cesare des inzwischen so sehr gefragten New Yorker Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen ist als männlich-kraftvollen Gestalt aber vor allem stimmlich überragend. Inmitten der britisch-viktorianischen „Rotjacken“ steht Cesare in seiner goldenen Rüstung als alter Römer wie ein Fels in der Brandung – doch er wird schwach, wenn er von der angeblichen Kammerzofe Kleopatras Lidia (die ja in Wahrheit Kleopatra selbst ist) umworben und bezirzt wird. Darstellerisch erstklassig, detailreich nuanciert, wie alle Kolleginnen und Kollegen dieser Aufführung.
Fast übermenschlich, wie er diese ebenso lange wie anspruchsvolle Countertenor-Partie makellos, mit heller, melodiöser Stimme und perfekter Präzision meistert. In den früheren Aufführungen wurde übrigens der Cesare nicht von einem Countertenor, sondern von einer Altistin gesungen.
Eine Kleopatra zum Niederknien
Zum Niederknien die Kleopatra der britischen Sopranistin Louise Alder: Verführerisch, bildschön, finten- und trickreich, mit feinem Humor – eine vollendete Tänzerin, Schauspielerin und Sängerin, vor allem in ihrer großen Arie am Ende des zweiten Aktes, welche das so verwöhnte Publikum des 1250 Plätze umfassenden Theaters von Glyndebourne in mucksmäuschenstiller Bewunderung erstarren ließ, bevor ein geradezu frenetischer Applaus losbrach.
Überaus berührend und wunderschön, mit harmonischem, patiniertem Gesang, die Cornelia der außergewöhnlichen schottischen Mezzosopranistin Beth Taylor. Hinreißend im Duett der beiden Mezzo mit ihrem „Sohn“ Sesto (virtuos und brillant die bulgarische Mezzosopranistin Svetlina Stoyanova).
Jener andere Countertenor, der intrigante, machthungrige und mörderische Tolomeo, König Ägyptens, geboten vom persischen Sänger Cameron Shahbazi, steht hinter dem Cesare von Cohnen in nichts zurück. Auch seine Stimme ist von makelloser Höhe, präzise Stimmführung bis ins Detail. Vor allem imponiert seine Darstellung des mit seinen elf Jahren noch kindlichen Bösewichts – und seine persischen Züge machen die Darstellung des Ägypters plausibel.
Maskulin und sonor der Bass des Luca Tittoto Achilla, der ja als Tolomeos General Caesar mit dem (unwillkommenen) Willkommensgeschenk des Kopfes seines Widersachers Pompeius die Dinge buchstäblich ins Rollen bringt – und der sich in penetranter Hartnäckigkeit, aber natürlich vergeblich, um die schöne Witwe Cornelia bemüht, deren Gatten er ja ermordet hatte…
Eine denkwürdige Inszenierung, das Orchestra oft the Age of Enlightenment intonierte Händel ebenso nuanciert wie temperamentvoll unter der souveränen Stabführung des bewährten Dirigenten Laurence Cummings – einer der namhaftesten Exponenten historischer Aufführungen und selbst ein virtuoser Interpret des Cembalos.
Dr. Charles E. Ritterband, 28. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Giulio Cesare: Aryeh Nussbaum Cohen
Cleopatra: Louise Alder
Curio: Thomas Chenhall
Cornelia: Beth Taylor
Tolomeo: Cameron Shahbazi
Achilla: Luca Tittoto
Sesto: Svetlina Stoyanova
Nireno: Ray Chenez
Wolfgang Amadeus Mozart, Le Nozze di Figaro Glyndebourne, 9. Juni 2022
Georg Friedrich Händel: JULIUS CÄSAR IN ÄGYPTEN, Premiere Oper Halle, 31. Mai 2019
Georg Friedrich Händel, Giulio Cesare in Egitto, Teatro alla Scala, 25. Oktober 2019
Gibt es von der von Ihnen so hervorragend rezensierten Oper einen Stream?
Übrigens danke für diese wunderbare Kritik, es hat mich sehr begeistert.
Harald May, Tirol