Carmen in HH: Dass Männer allesamt Trottel sind, werden wir schmunzelnd ertragen

Georges Bizet, Carmen  Hamburgische Staatsoper, 5. Oktober 2022

Foto: Katrina Galka (Frasquita), Kostas Smoriginas (Escamillo), Tomislav Mužek (Don José), Yoel Gamzou (musikalische Leitung), Sascha-Alexander Todtner (?, Mitarbeit Regie), Maria Kataeva (Carmen), Elbenita Kajtazi (Micaëla), Ida Aldrian (Mercédès), Jürgen Sacher (Remendado), Hubert Kowalczyk (Zuniga) (Foto: RW)

Hamburgische Staatsoper, 5. Oktober 2022
5. Vorstellung seit der Premiere am 17. September 2022

Georges Bizet
Carmen

Ein hervorragendes Sängerensemble und ein beeindruckendes Bühnenbild adeln Georges Bizets Oper Carmen

Tomislav Mužek erklärte mit lyrischem Schmelz und heldischem Forte seine Liebe zu Carmen (Blumenarie), und Maria Kataeva als Carmen hörte ihm zu, erst ungläubig, dann wieder mitleidig und schließlich mit tiefer Empathie für den Verliebten. Das war von der Sängerin grandios gestaltet.

von Dr. Ralf Wegner

Ich ging mit nicht sehr hohen Erwartungen in die Aufführung und wurde positiv überrascht. Anfangs ähnelten Bühne, Kostüme und Regie einem chinesischen Puppentheater mit übertriebener hölzerner Gestik (Inszenierung und Bühne Herbert Fritsch), grotesk geschminkten Gesichtern und überzeichneten bunten Kostümen (José Luna). Die Bühnenmitte füllte ein rund eingefasstes, buntes Blumenbeet, in dessen Mitte eine gut 6 Meter hohe, blau ummantelte Madonnenfigur herabgelassen wurde. Der Schauwert war hoch und überdeckte die sich in dieser Oper anfangs immer ausbreitende Langeweile.

Mit Carmens Auftritt konzentrierte sich das Interesse auf die Personen. Die zum Ensemble der Deutschen Oper am Rhein gehörende Mezzosopranistin Maria Kataeva sang die Habanera L’amour est un oiseau rebelle mit glutvoller, sinnlicher Stimme; darstellerisch überzeichnete die attraktive Sängerin den Carmen-Typus, von der Regie offensichtlich gewollt, wie in einer schlechten Revue. Die Männer waren allesamt, dem heutigen Mindermassengeschmack entsprechend, als kostümierte Volltrottel dargestellt. Mit dem Duett Don José/Micaëla Parle-moi de ma mère, gesungen von dem kroatischen Tenor Tomislav Mužek sowie von dem Hamburger Ensemblemitglied Elbenita Kajtazi, gewann das Stück seelische Tiefe. Tomislav Mužeks Stimme verfügt über einen bronzefarbenen Klang und eine stabile heldische Höhe mit Strahlkraft in den Saal hinein; er sang mit schönem Legato und angenehm klingender Kopfstimme. Wie erwartet gelang es Elbenita Kajtazi mit wunderbar beseelten, farbreichen Tönen bereits im ersten Akt zu fesseln.

Maria Kataeva, Elbenita Kajtazi, Ida Aldrian, Jürgen Sacher und Hubert Kowalczyk (Foto RW)

Der zweite Akt zeigte eine weitgehend leere Bühne mit brokatähnlichen, verschieden beleuchteten Wandvorhängen. Es war der Auftritt des Escamillo, gesungen von dem litauischen Bassbariton Kostas Smoriginas, dessen gockelhaft inszeniertes Gehabe unter den anderen Selbstverliebten nicht mehr besonders auffiel. Mit kräftiger, bassgrundierter Stimme und beeindruckender Höhe gestaltete er die Auftrittsarie Escamillos Toréador en garde! Mužek erklärte anschließend mit lyrischem Schmelz und heldischem Forte seine Liebe zu Carmen (Blumenarie: La fleur que tu m’avais jetée); und Maria Kataevas Carmen hörte ihm zu, erst ungläubig, dann wieder mitleidig und schließlich  mit tiefer Empathie für den unglücklich Verliebten. Das war von der Sängerin grandios gestaltet.

Der dritte Akt wies einen klassischen bemalten Prospekt auf, der den ganzen Hintergrund füllte. Er zeigte eine Berglandschaft, fast im Stil wie von Karl Schmidt-Rottluff gemalt. Davor erstreckten sich Bergzüge sowie eine schwankende Hängebrücke, welche von den Schmugglern überquert werden mussten. Vor der Bergkulisse stand zudem ein großes, ca. 4 m hohes Holzkreuz, hinter dem es hin und wieder schaurig gewitterte. Allein dieses Bühnenbild war den Besuch der Aufführung wert, daneben natürlich die von Elbenita Kajtazi herrlich und mit Emphase gesungene große Arie der Micaëla Je dis que rien ne m’épouvante.

Das letzte Bild zeigte einen Hintergrundprospekt mit der Ankündigung des Auftritts Escamillos in der sevillanischen Stierkampfarena, außerdem die riesige Marienstatue bei sonst leerer Bühne. Wie Carmen in einem goldenen Kleid auftrat, allein vor der blauweißen Maria stand und gefühlt minutenlang zu dem frommen Gesicht der Madonna hochblickte, kommt einer der erinnerungswürdigen Opernszenen gleich, wie sie in diesem Blog vor kurzem von Lothar und Sylvia Schweitzer beschrieben worden sind. Carmen konfrontierte sich mit ihrem aus den Karten gelesenen Schicksal und gibt sich in die Hand der Muttergottes. Schlüssig ist dann auch das Ende: Nicht Don José ersticht Carmen, sie zieht vielmehr sein Messer in sich hinein und stirbt, hingegossen wie Kleopatra vor dem sich schließenden schwarzen Vorhang. Großer Jubel für alle Beteiligten, vor allem für Maria Kataeva und Elbenita Kajtazi, aber auch für Tomislav Mužek und Kostas Smoriginas.

Maria Kataeva als Carmen vor dem Bühnenvorhang (Foto RW)

Neben diesen trugen auch Hubert Kowalcyk mit mit Mut zur Farce und weit tragendem Bass als Zuniga sowie Katrina Galka als Frasquita und Ida Aldrian als Mercédès zum perfekten gelingen der Aufführung bei; ebenso Jürgen Sacher, Nicholas Mogg und Blake Denson als Remendado, Dancairo und Moralès, genauso wie der phantastisch singende Chor. Die musikalische Leitung hatte Yoel Gamzou.

Insgesamt gelang dem Team um Herbert Fritsch ein Überraschungscoup. Die zunächst befremdliche Überzeichnung des auftretenden Personals machte schließlich Sinn, nahm dem Werk den pseudorealistisch-reißerischen Effekt und kam wegen der Übertreibung auch nicht nur in die Nähe des gefühligen Kitsches. Umso stärker gelangen die Momente der seelischen Vertiefung, wenn wie in dieser Aufführung Sängerinnen wie Maria Kataeva und Elbenita Kajtazi zur Verfügung standen. Dass Männer allesamt Trottel sind, werden wir schmunzelnd ertragen.

Dr. Ralf Wegner, 6. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Carmen, Georges Bizet Staatsoper Hamburg, 17. September 2022 PREMIERE

Nabucco, Carmen, Elbphilharmonie-Konzert Hamburg, 30. September – 2. Oktober 2022

Ungeliebte Opern 1: Carmen von George Bizet klassik-begeistert.de , 17. September 2022

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