John Neumeier macht den Unterschied in der kulturell oft nicht verwöhnten Zwei-Millionen-Stadt im Norden. Was wäre die Staatsoper Hamburg ohne diesen Giganten?
Ghost Light
Hamburg Ballett, B-Premiere, Staatsoper Hamburg, 9. September 2020
von Dr. Ralf Wegner
Foto: John Neumeier 2019 © Kiran West
John Neumeier trat auch bei der B-Premiere vor Beginn auf die Bühne und schilderte den Anlass, dieses Ballett zu kreieren. Der Corona-bedingte Lockdown habe seinen Tänzerinnen und Tänzern die Bewegungsmöglichkeit genommen, die Bühne sei verwaist. Wie nachts seit ewigen Zeiten glimme nur noch ein kleines Licht, welches den Geistern Verstorbener ermögliche, sich noch einmal auf der Bühne zu zeigen.
Und es beginnt auch mit Geistern, Anna Laudere erscheint als Marguerite auf der Bühne, sie könnte auch Anna Karenina sein, so wie sie sich mit dem Rücken zum Publikum an einer Bühnenwand bewegt. Später, bereits in den Tanz der anderen eingebunden, ist es Emilie Mazoń als Marie, die Tanzenden anhimmelnd, ganz so wie in Neumeiers Nussknacker- Ballett. Alexandre Riabko trägt das Nijinsky-Kostüm und springt auch so, flugrollenähnlich, wie in jenem Ballett.
Diese Erinnerungen an Vergangenes bleiben kurz, so wie sich Geisterscheinungen zwischen Schlaf und Aufwachen einschleichen können: Flüchtige Nebel zwischen Traum und Wirklichkeit. Im Vordergrund dieser Uraufführung steht allein der Tanz, der Ausdruck eines Gefühls durch Bewegung, nicht artistischer Hochleistungssport, nichts Narratives. Es ist Neumeiers Liebeserklärung an den Tanz und an seine Tänzerinnen und Tänzer. Eine Liebe, die vom Publikum mit anhaltenden Schlussapplaus zurückgegeben wurde.
In Ghost Light wird nichts erzählt, nur getanzt, abwechselnd solistisch und in größeren, auf Abstand haltenden Gruppen, aber auch paarweise, laut Besetzungszettel nur von Ehepaaren oder Lebenspartnern. Trotzdem berühren sich auch die anderen Tänzerinnen und Tänzer, wenn auch nur vereinzelt und eher schüchtern. Der Tanz entwickelt sich immer aus der
Silvia Azzoni und Alexandre Riabko (© Kiran West)
Musik. Michal Bialk spielt Franz Schubert: Moments Musicaux, Allegretto in c-Moll, Vier Impromptus und Sonate Nr. 18 in G-Dur, 1. Satz. Man muss sich einsehen, dann vergehen die fast zwei Stunden Aufführungsdauer (keine Pause, einschl. etwa 10 Min. Schlussbeifall) wie im Fluge.
Neumeier beschäftigt fast sein gesamtes Ballett. Dem Ersten Solisten Christopher Evans fällt es zu, die einzelnen Szenen immer wieder zu begleiten, auch solistisch im Gleichklang mit Félix Paquet. Aleix Martinez und Patrizia Friza betonen in ihren Soli das eckig-kantige, auch das Furiose. Man könnte es als Ausdruck von Einsamkeit interpretieren. Hélène Bouchet beeindruckt mit schönen Ports de bras. Einsamkeit geht von dem immer fröhlich wirkenden Marcelino Libao nicht aus, er nimmt mit zahlreichen (Spagat)Sprüngen für sich ein, ebenso wie Atte Kilpinen, der den Part des erkrankten Alexandr Trusch übernommen hatte. Am berührendsten sind die Pas de deux, innig beginnend mit Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, fortgesetzt von David Rodriguez und Matias Oberlin, die sich in beidseitigem Begehren zu- und wieder abwenden. Nicolas Gläsmann hatte die dankbare Aufgabe, der tänzerischen Aura von Madoka Sugai stand zu halten und, ich muss es sagen, den tiefsten Eindruck hinterließ bei mir Anna Laudere mit ihren weich fließenden Bewegungen, wunderbar gepartnert von ihrem Ehegatten Edvin Revazov.
Wie eigentlich immer schuf Neumeier ein beeindruckendes, diesmal in seiner Kargheit überzeugendes Bühnenbild mit der Farbpalette weißgrau bis schwarz. Seiten und Hintergrund der Bühne waren schwarz, der Tanzboden hellgrau. Rückwärtig befand sich eine schmale, mittelgraue Querwand. Davor stand, etwas seitlich, ein einsamer Lampenmast, das Geisterlicht. Die Kostüme sollten, so war es in der Vorankündigung zu lesen, eher einem Werkstattcharakter entsprechen. Ich empfand sie dagegen als durchaus dem Anlass angemessen, vielleicht bis auf Silvia Azzonis rosa Trikot.
Hélène Bouchet (© Kiran West)
Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann (© Kiran West)
Wir Zuseher waren priviligiert. Selten habe ich so gut sehen können. Links und rechts jeweils zwei Plätze frei, ebenso die Reihe vor und hinter mir. Das Haus wirkte wegen der gleichmäßigen Verteilung der Zuschauer gut gefüllt, keineswegs leer oder gar trostlost. Und es war still, eine Stille, wie ich sie im Theater noch nie erlebt habe. Schon vor der Aufführung wurde bemerkenswert leise gesprochen. Während der ersten Geistererscheinungen war es, vor Einsatz der Musik, wie totenstill im Saal, kein Rascheln, kein Husten, kein Räuspern, nichts als Stille. Auch das war ein Erlebnis. Ich würde übermorgen wieder hingehen; wenn es Karten gäbe.
Edvin Revazov und Anna Laudere (© Kiran West)
Ralf Wegner, 10. September 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lieber Herr Dr. Wegner,
eine wunderbare Rezension. Auch ich habe der Uraufführung beiwohnen dürfen und war von diesem berührenden Stück, in dem körperlicher Abstand notgedrungen, aber dennoch auf geniale Art und Weise zur choreografischen Grundlage gemacht wurde, tief beeindruckt. John Neumeyer ist es gelungen, in dieser von Unsicherheit und Angst geprägten Zeit ein Zeichen der Hoffnung gegen die Düsternis zu setzen. Die vom polnischen Pianisten Michal Bialk live gespielte Klaviermusik von Franz Schubert war eine Musik der Stille, vielleicht ein wenig schwermütig, aber dennoch in perfekter Symbiose mit dem Geist dieser Aufführung. Als Anna Laudere zu Beginn anmutig auf die Bühne schritt und plötzlich einen Hustenanfall bekam, dachte ich unweigerlich an Krankheit und Tod im Zeichen der Pandemie. Es war, wie Sie es ja auch erlebt haben, minutenlang völlig still, keine Musik, es war einer der Momente, die mir noch lange im Gedächtnis bleiben werden. Für mich persönlich waren die tief gefühlten Pas de deux der verschiedenen Paare der absolute Höhepunkt der Choreographie. Lieber Herr Dr. Wegner, ich lese Ihre Rezensionen immer wieder mit Begeisterung und bewundere Ihr Einfühlungsvermögen. Viele liebe Grüße.
Harald Messal