Oper Dortmund, 9. Februar 2019
Giacomo Puccini, Turandot (Premiere)
von Ingo Luther
Giacomo Puccini hat der Nachwelt mit seiner „Turandot“ sein großes, musikalisches Vermächtnis hinterlassen. Leider konnte er es nicht mehr selbst zu Ende führen. Wie hätte es wohl ausgesehen? Es ist überliefert, dass sich Puccini außerordentlich dabei quälte, einen stimmigen, passenden Schluss für sein letztes Opus zu finden. Mit dem Tod seiner kleinen, liebenden Heldin – der Sklavin Liù – endete auch die Arbeit des Jahrtausendkomponisten an dieser Komposition. Er starb am 29. November 1924 nach einer Operation aufgrund der Diagnose Kehlkopfkrebs. Sein Schüler Franco Alfano war es dann letztlich, der das Werk vollendete. Bei der Uraufführung am 25. April 1926 in der Mailänder Scala beendete Arturo Toscanini die Oper an jener Stelle, an der Puccini die Arbeit an seinem Werk einstellen musste. Wer den feinsinnigen Puccini und die zärtlich-melancholische Musik beim Tode der Mimì im 4. Bild von „La Bohème“ im Hinterkopf hat, hätte dem Meister aus dem toskanischen Lucca für seine letzte Oper sicherlich auch ein anderes Ende zugetraut als eine pompöse, konstruierte Vermählung zwischen Calaf und Turandot…
Heribert Germeshausen setzt im ersten Jahr seiner Intendanz an der Dortmunder Oper auf die großen Kassenschlager: Aida, Der Barbier von Sevilla, West Side Story und eben Turandot stehen u.a. in dieser Saison auf dem Spielplan. Mit dem musikalischen „Mainstream“ setzt man in Dortmund mehr auf „Nummer sicher“ als das ganz große Risiko zu gehen und damit sinkende Auslastungszahlen in Kauf zu nehmen. Das Konzept kann aufgehen, wenn das Programm auf einem soliden, qualitativ hochwertigen Fundament aufgebaut ist.
Letzteres kann man bei der aktuellen Turandot-Produktion zu Hundertprozent feststellen: Mit dem jungen Japaner Tomo Sugao (40) konnte man in Dortmund einen preisgekrönten, überaus gefragten Regisseur verpflichten, der bereits in Würzburg, Prag, Zürich und Tokio vielbeachtete Kostproben seines Talentes abliefern konnte. Seine Dortmunder Turandot-Inszenierung ist eine starke, plakative Visitenkarte seiner gestalterischen Schaffenskraft: Sein Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann darf sich nach Herzens Lust austoben – ob ein riesiger goldener Drache im Hintergrund, große, rote Lampions wie im Chinarestaurant, sich verschiebende Raumteilungen und Wandkonstruktionen in satten Rottönen oder eine Art Altarfläche, auf der die gescheiterten Werber um Turandots Gunst martialisch hingerichtet werden – hier wird nicht gespart, das ist Ausstattungstheater von facettenreicher Üppigkeit und farblicher Vielfalt! Dazu passen auch die opulenten Kostüme von Mechthild Seipel, die ein wahres Feuerwerk von chinesischem Kolorit zünden und ihren Höhepunkt in dem fast schon gespenstischen, statischen und panzerartigem Gewand der Prinzessin Turandot findet. Das Licht von Ralph Jürgens sorgt immer wieder für märchenhaft eindrucksvolle Bilder, die sich nachhaltig einbrennen.
Zu der außergewöhnlichen Üppigkeit der Farben und Formen auf der Bühne, passt die musikalische Begleitung aus dem Graben. Der Dortmunder Generalmusikdirektor Gabriel Feltz spart an diesem Abend nicht an Intensität und Lautstärke. Die orchestralen Klangwellen fluten das Dortmunder Opernhaus bis in die letzte Reihe und die expressiven Ausbrüche werden für manch zartbesaitetes Gehör akustische Grenzbereiche neu definiert haben. Eine musikalische Machtdemonstration eines klanggewaltigen, hochklassigen Orchesterapparates, die doch in einigen Momenten etwas zu Lasten der akzentuierten Ausleuchtung der lyrischen Passagen geht.
Die Auswahl der Stimmen in dieser Produktion legt sich wie eine passgenaue Schablone über die Sichtweise von Tomo Sugao auf die Geschichte der Turandot. In einer männerdominierten Welt aus Unterdrückung, Macht und Gewalt bleibt kein Raum für wirkliche Gefühle. Sugao zeichnet Turandot als traumatisierte, frigide, unnahbare Frau. Die stetigen Andeutungen mit geschundenen Puppen und dem Auftauchen von Kinderdarstellern lenkt schnell die Gedanken in Richtung einer Vergangenheit, in der sexueller Missbrauch seine fatale Wirkung auf die Entwicklung der jungen Prinzessin entfaltet haben mag.
Mit der Schweizerin Stéphanie Müther ist die Rolle der Turandot mit einer großen, strahlkräftigen Stimme besetzt. Ihr scharfer, raumgreifender Mezzosopran zeigt keinerlei weiche Züge und demonstriert bis zum Ende eine beeindruckende emotionale Kälte. Stéphanie Müther hat sich über die Lady Macbeth bis hin zu den Brünnhilden in Walküre und Götterdämmerung ein mächtiges Volumen erarbeitet, mit dem sie sich kraftvoll und mühelos über das Orchester hinwegsetzen kann.
Auch die Rolle des Calaf ist in dieser Produktion nicht als klassischer Held angelegt. Tomo Sugao zieht in seinem Beitrag im Programmheft eine gedankliche Parallele zu Donald Trump: Als Sohn eines erfolgreichen Immobiliengeschäftsmannes möchte dieser ein noch größeres Imperium aufbauen und das Machtstreben des Vaters noch übertreffen. Andrea Shin singt den Calaf ohne jeden Anflug von Romantik und klassischer tenoraler Heldenhaftigkeit. Auch hier möchte der Sohn um jeden Preis die verlorengegangene Macht seines Vaters Timur, dem entthronten König der Tartaren, zurückgewinnen und zu neuem Glanz führen. Es geht um Macht und Prestige – Gefühle sind dabei nur im Weg. Am Ende ist der Griff nach dem goldenen Gewand des verstorbenen Kaisers wichtiger als der Blick auf die gewonnene Prinzessin und eine liebevolle Zukunft in Zweisamkeit – deutlicher kann man es nicht darstellen.
Andrea Shin singt den Calaf ausdrucksstark, mit brillanter Technik und einer geballten Ladung tenoraler Leuchtkraft. Zu keiner Zeit vermittelt er den Eindruck, dass Liebe die Triebfeder seines Handels sein könnte. Machtkalkül und fanatische Besessenheit sind sein Weg – so bleibt auch die „Nummer- Eins-Arie“ jeder Opernhitparade „Nessun dorma“, von einer wahrnehmbaren Distanz und Kälte und ohne die oft zu Tränen rührende Emotionalität. Keine Kritik an Andrea Shin – die Interpretation seines Calaf fügt sich wie ein Puzzleteil in die Sichtweise der Regie. Klugerweise verzichtet Gabriel Feltz auf die oft übliche musikalische Nische für den offenen Szenenapplaus nach der Arie „Nessun dorma“– ein Glücksgriff für den musikalischen Fluss und die Kompaktheit der orchestralen Umsetzung.
Nur eine Figur in dieser Geschichte steht für die aufrichtige Liebe und die gnadenlose Bereitschaft, dieser alles, selbst das eigene Leben, zu opfern. Die Südkoreanerin Sae-Kyung Rim sang bereits die Floria Tosca an der Wiener Staatsoper, an diesem Premierenabend verkörpert sie die Sklavin Liù mit einer aufopferungsvollen Hingabe und dramatischer Unterwürfigkeit. Ihre große Arie „Tu che di gel sei cinta“ wird zu einer musikalischen Delikatesse! Rim’s farbenprächtiger Sopran leuchtet dabei die bis in die feinsten Verästelungen der Partitur und verleiht ihrer Darstellung eine bedrückende Authentizität. Brava!
Die Rollen der Palast-Offiziellen Ping, Pong und Pang sind komfortabel aus dem Ensemble besetzt. Morgan Moody, Sunnyboy Dladla und Fritz Steinbacher sorgen für viel Spielfreude und komödiantische Finesse. Auch die beiden Vater-Rollen sind in Dortmund hervorragend besetzt: Der Bayreuth-erfahrene Karl-Heinz Lehner verkörpert den Timur, den Vater von Calaf, mit seinem warmherzigen, wohlklingenden Bass. Das Dortmunder Urgestein, Kammersänger Hannes Brock, steht nach 2003 unter der damaligen musikalischen Leitung von Axel Kober 16 Jahre später erneut in der Rolle des Altoum, des Kaisers von China, auf der der Dortmunder Bühne.
Eine ganz besondere Rolle in dieser Turandot-Produktion nimmt der Chor unter der Leitung von Fabio Mancini ein. Als tobender, emotional aufgeladener Mob, zum Teil die Gliedmaßen hingerichteter Opfer schwenkend, entstehen enorm ausdrucksstarke Bilder, die unglaublich intensiv die gewaltbereite Wut und den blinden Fanatismus der Volksmassen im kriegslüsternen Peking nachzeichnen. In dieser freigesetzten Bewegungsenergie wird aber auch noch gesungen: Die Choreinsätze donnern präzise wie Messerschnitte in die Musik und sorgen für die größten musikalischen Gänsehaut-Momente an diesem Abend.
Das Dortmunder Publikum feiert diese Turandot-Premiere mit frenetischem Jubel, schon sehr schnell geht der enthusiastische Beifall in stehende Ovationen über. Musikalisch können die Besucher in jedem Fall auf einen herausragenden Abend mit einem enorm homogenen, auf sehr hohem Niveau agierenden Sänger-Ensemble zurückblicken. Die Inszenierung von Tomo Sugao ist spektakulär, opulent ausgestattet und grandios bebildert. Einzig mit der Missbrauchsproblematik lässt die Regie den Zuschauer irgendwann allein zurück – zerstörte Puppen und plötzlich auftauchende Kinderdarsteller, die die junge Prinzessin Turandot verkörpern, deuten das möglicherweise Geschehene zwar an, erzählen die Geschichte aber nicht konsequent zu Ende. Hier bleiben doch einige Fragen unbeantwortet.
Dank der ausdrucksstarken Bilder und der üppigen Ausstattung eignet sich diese Turandot-Interpretation übrigens bestens für „Opern-Einsteiger“ und Erstlings-Besucher. Hier steht nicht nur „Turandot“ drauf, hier ist auch „Turandot“ drin – es wird nicht am Libretto „vorbei inszeniert“, sondern mit feiner Akzentuierung die ursprüngliche Geschichte erzählt. Zu erleben ist dies wieder am 3., 13., 16., 22., 28. und 31. März, am 7. April und am 3. Mai im Dortmunder Opernhaus.
Ingo Luther, 11. Februar 2019,
für klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung, Gabriel Feltz
Regie, Tomo Sugao
Bühne, Frank Philipp Schlößmann
Kostüme, Mechthild Seipel
Dramaturgie, Merle Fahrholz
Turandot,Stéphanie Müther
Calaf, Andrea Shin
Liù, Sae-Kyung Rim
Ping / Ein Mandarin, Morgan Moody
Pang, Fritz Steinbrecher
Pong, Sunnyboy Dladla
Kaiser Altoum, Ks. Hannes Brock
Chor, Fabio Mancini
Opernchor Theater Dortmund
Statisterie und Kinderstatisterie Theater Dortmund
Dortmunder Philharmoniker