Theater an der Wien: Rossinis Freiheitsoper ohne Alpenkitsch im High Tech-Stil und mit wunderbaren Stimmen

Gioachino Rossini, Guillaume Tell, Jane Archibald (Mathilde), John Osborn (Melchthal),  Theater an der Wien

Foto: Jane Archibald (Mathilde), John Osborn (Melchthal) © Moritz Schell
Theater an der Wien, 22. Oktober 2018
Gioachino Rossini, Guillaume Tell

von Charles E. Ritterband

Wenn die Habsburger-Prinzessin Mathilde (Jane Archibald)und Arnold Melcthal (John Osborn) einander in ihrem hinreißend schönen Duett im 2. Akt ihre Liebe gestehen, ist der stimmliche Höhepunkt dieser eigenwilligen Inszenierung des Guillaume Tell am Theater an der Wien erreicht. Archibald und Osborn sind die Stars dieses Abends, obwohl Ante Jerkunica als imposanter Bösewicht Gesler und Christoph Pohl als charismatischer Freiheitsheld Tell dem glänzenden Liebespaar stimmlich durchaus gleichwertiges entgegenhalten können. Doch Koloratursopran und Heldentenor, vor allem in dieser höchsten Qualität, sind selbst gegenüber dem hervorragenden Bariton Tell und dem dramatischen Bass Gesler gleichsam konkurrenzlos.

Die an den großen Opernhäusern weltweit gefragte kanadische Koloratursopranistin Jane Archibald beherrscht mühelos und mit großer Hingabe und unerschöpflicher Energie das ganze Spektrum des Gesangs: Von den virtuosen Belcanto-Koloraturen, über das dramatische Verve, bis hin zur sensiblen, leisen Intimität, die Rossini in dieser facettenreichen Rolle fordert. Die „Romance“, das „Sombre foret, desert triste et sauvage“, und ihre einzige echte Solo-Arie „düsterer Wald, traurige und wilde Wüste“ gibt sie mit berührender Subtilität.

Ihr Partner, der Amerikaner John Osborn schwankt in seinem konfliktreichen Part zwischen glühendem Patriotismus, Rache für den ermordeten Bruder und Hingabe für die habsburgische Prinzessin. Sein Dilemma bringt Osborn sowohl schauspielerisch als auch stimmlich deutlich zum Ausdruck, ohne je in Kitsch und Klischee abzugleiten. Mit seiner unbeirrbar höhensicheren Tenorstimme, zerfließendem Schmelz, männlicher Kraft und wunderbarer Lyrik ist Osborn ein überzeugender Partner der Sopranistin Archibald.

Dem sadistischen Tyrannen Gesler verleiht Ante Jerkunica eine gewaltige Stimme, die in überragender Stärke und sonorer Tiefe schrankenlose Macht und klassenbewusste Menschenverachtung des habsburgischen Statthalters zum Ausdruck bringt. Der aus Kroatien stammende Sänger vereint dominante Bühnenpräsenz mit feinen Nuancen – vor allem gegenüber Jemmy, dem kühnen Sohn Tells (stimmlich überzeugend und mit zurückhaltendem Charme verkörpert durch die Sopranistin Anita Rosati): Gesler streicht Jemmy mit aufgesetzter Zärtlichkeit über die Wange, die sich im Befehl zum Apfelschuss sofort als brutaler Zynismus entlarven sollte – Faschismus in seiner mörderischen Doppelgesichtigkeit zwischen „Fürsorglichkeit“ für „das Volk“ und hemmungslos eingesetzter Macht wurde selten überzeugender auf die Bühne gebracht.

Der deutsche Bariton Christoph Pohl, der sich in Opernhäusern von Weltruf wie der Londoner Royal Opera Covent Garden bewährt hat, überzeugte schauspielerisch in der Titelrolle als Tell. Als hemdsärmliger Naturbursche von unzähmbarer Kraft tritt er dem geschniegelten Tyrannen in dessen maßgeschneiderter Uniform furchtlos entgegen – als Zuschauer nimmt man diesem Tell ohne weiteres ab, dass er mühelos als Amateur-Steuermann ein zerbrechliches Schifflein über den sturmgepeitschten Vierwaldstättersee lenken und sich mit einem kühnen Sprung auf eine Felsplatte in Sicherheit bringen kann – und mit seiner Armbrust unfehlbar auch das winzigste Ziel (den Apfel!) trifft. Doch stimmlich muss er Konzessionen an die Partitur machen – Pohl verfügt zwar über eine wunderschöne, gepflegte Baritonstimme, aber er ist unverkennbar kein Belcanto-Spezialist.

Der in zahllosen Inszenierungen am Theater an der Wien bewährte Arnold-Schönberg-Chor erweist sich auch dieses Mal als makelloser Klangkörper – ebenso die Wiener Symphoniker unter der Stabführung von Diego Matheuz. Allerdings schien dieses Spitzenorchester sich in den ersten Szenen erst aufzuwärmen, bevor es zu den gewohnten Höchstleistungen auflief – und Matheuz muss wohl die Kritik gelten lassen, dieses Potenzial allzu lautstark und hemmungslos auf die Sänger loszulassen.

Torsten Fischers Inszenierung, in welcher der Schauplatz Schweiz nur durch Tiefschnee zu Anfang angedeutet wird, aus dem sich die Darsteller herausbuddeln, stieß vielfach auf Unverständnis, ja auf Hohn. Fischer setzt auf kalten High-Tech und nicht auf die übliche Romantik, das alpine Idyll, das einem sonst zum Thema Tell einfällt. Ich fand diese Inszenierung höchst intelligent und stimmig: Der Aufmarsch strammer Uniformträger und bis an die Zähne bewaffnete Soldaten in Tarnkleidung; auf dem Bildschirm der sich ständig wiederholende Angriff von Bombern, die ihre tödliche Last auf irgendwelche Ziele abwerfen; ein aus Stahlträgern und Eisentreppen bestehendes Bühnenbild in kaltem Scheinwerferlicht – besser kann man heutzutage für ein fernsehgewohntes Publikum totalitäre Herrschaft kaum darstellen! Das ist unendlich stärker als galoppierende Pferde vor einer Bergkulisse und wehende Flaggen.

Wenn das bühnenfüllende Metallpodest langsam, tonnenschwer und unaufhaltsam auf das geknechtete Volk hinabgelassen wird, bis sich die Menschen hinabbeugen müssen, um nicht von dieser mörderischen Last erdrückt zu werden, wird „Unterdrückung“ weit besser visualisiert als man es je auf einer Bühne gesehen haben mag.

Dieses letzte, grandiose Werk Rossinis – meilenweit entfernt von der Heiterkeit einer „Cenerentola“ und dem „Barbiere“ – erhält in dieser Inszenierung eine universelle, symbolisch-metaphorische Bedeutung, die über den Schauplatz Schweiz hinausragt – ganz ähnlich verhält es sich beim „Fidelio“, bei dem niemand mehr fragt, ob der Schauplatz Sevilla oder irgendein fiktiver Schauplatz irgendwo auf der Welt gemeint sei. Und schließlich hat Schiller in seinem „Tell“ zwar ein romantisch verklärtes Bild vom Schauplatz Vierwaldstättersee gezeichnet – das dort auch gebührend touristisch vermarktet wird –, doch Schiller hat bekanntlich nie einen Fuß in die Schweiz gesetzt. Seine aufklärerische Botschaft hat letztlich mit der Schweiz nichts zu tun – und in diesem Sinne hat der Regisseur Fischer mit dem „Guillaume“ ganz im Sinn und Geist des großen deutschen Dichters inszeniert.

Charles E. Ritterband, 26. Oktober 2018, für
klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.de

Diego Matheuz, Musikalische Leitung
Torsten Fischer, Inszenierung und Licht
Herbert Schäfer und Vasilis Triantafilopoulos, Ausstattung
Franz Tscheck, Licht
Karl Alfred Schreiner, Choreographie
Jan Frankl, Video
Herbert Schäfer, Dramaturgie

Christoph Pohl, Guillaume Tell
John Osborn, Arnold Melcthal
Jane Archibald, Mathilde
Marie-Claude Chappuis, Hedwige
Anita Rosati, Jemmy
Jérôme Varnier, Melcthal
Anton Jerkunica, Gesler
Edwin Crossley-Mercer, Walter Fürst
Anton Rositskiy, Ruodi
Sam Furness, 
Rodolphe
Lukas Jakobski, 
Leuthold

Wiener Symphoniker,Orchester
Arnold Schoenberg Chor
 (Leitung: Erwin Ortner)

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