Irina Lungu, Wiener Staatsoper (c)
Staatsoper Hamburg, 14. März 2019
Giuseppe Verdi, La Traviata (39. Vorstellung seit der Premiere am 17. Februar 2013)
von Guido Marquardt
Johannes Eraths Inszenierung von Verdis Dauerbrenner zeigt das Werk als eine Art Totentanz auf dem Rummelplatz – und lässt zugleich dem Ensemble viel Raum für die psychologische Ausgestaltung seiner Figuren. Das nutzt insbesondere Irina Lungu für eine Weltklasse-Violetta, während Staatsopern-Debütant Simone Piazzola als Giorgio Germont seinem Bühnensohn Stephen Costello glatt die Show stiehlt. Das Orchester musiziert unter Roberto Rizzi Brignoli solide, der Chor hat gute und weniger gute Momente.
Seit Jahren steht Verdis Traviata beständig an der Spitze, wenn es um die meistaufgeführten Opern weltweit geht. Auch in Deutschland ist das Werk konstant enorm beliebt. Das liegt an der Unmittelbarkeit und Zeitlosigkeit der tragischen Geschichte, die es erzählt – einfach zu verstehen und dennoch mit komplexen psychologischen und gesellschaftlichen Hintergründen aufgeladen. Vor allem aber liegt es natürlich an der enormen musikalischen Qualität, an der Eingängigkeit von Verdis Komposition und der ungeheuren Dichte. Das Hollywood-Motto „Mit einem Erdbeben anfangen und dann langsam steigern“ könnte auch hier Pate gestanden haben.
Wohl bauend darauf, dass eine Traviata quasi ein Selbstgänger im Repertoire ist, lief die vorige Inszenierung in Hamburg tatsächlich mehr als 35 Jahre lang an der Staatsoper. Wir wissen natürlich nicht, wie lange sich die Erath-Traviata in Hamburg halten wird, aber in den sechs Jahren seit der Premiere bleibt seine Version im Großen und Ganzen schlüssig, ohne durch allzu große Exaltationen das Stammpublikum zu verstören. Die ausrangierten Autoscooter-Fahrzeuge, mit denen über den Rummelplatz ein recht kurzer Weg zum Karneval im dritten Akt führt, sind von einem gewissen Schauwert, tragen als Metapher aber auch nur bedingt.
Überzeugender ist da schon der konsequente Einsatz der Drehbühne, auf dem die Darstellerinnen und Darsteller wie auf einem unstoppbaren Karussell kreiseln, wo sie beständig schreiten, ohne je vom Fleck zu kommen. Die größten horizontalen Strecken legt da noch die Dienerin Annina zurück – und die auffälligen allegorischen Figuren, leichenblasse Gaukler, die Krankheit und Tod symbolisieren und (wie Annina) betont langsam gehen. Diese Figuren sind Teil der Regieentscheidung, „La Traviata“ in eine Rahmenerzählung einzubetten und sie damit in der Struktur ihrer Romanvorlage „Die Kameliendame“ anzunähern.
Erzählt wird bei Erath von einem verzweifelten Alfredo, der Violetta exhumiert und sodann die eigentliche Handlung der Oper retrospektiv imaginiert. Am Ende begegnen sich in einer durchaus schockierenden Szene die (gerade noch) lebende Violetta und ihre bereits tote Doppelgängerin und tauschen quasi ihre Plätze. Violettas Tod als eine Art Abgang vom Dunkeln ins Licht gerät allerdings recht kitschig und hinterlässt einige Fragen. Am stärksten ist diese Inszenierung immer dann, wenn sie sich zurücknimmt und voll auf die psychologische Tiefe der Figuren vertraut.
Zum Mythos des Werks gehören natürlich auch die faszinierend hohen Anforderungen, die es an das Können der Sopranistinnen stellt, die sich diese Titelrolle zutrauen. Die Russin Irina Lungu traute es sich bereits 2007 zu, als Lorin Maazel ihr den Part der Violetta Valéry anbot. Nicht irgendwo, sondern an keinem geringeren Ort als an der Mailänder Scala. Seither hat sie diese Rolle, die sie auch schon mal als ihr „Alter Ego“ bezeichnet, an vielen großen Häusern auf der ganzen Welt gesungen. Und Hamburg konnte sich glücklich schätzen, Lungu im Rahmen der „Italienischen Opernwochen“ auch auf den Brettern der Staatsoper als lungenkranke Kameliendame zu sehen. Sie gestaltet ihre Violetta mit ihrem etwas dunkleren Timbre als eine Person der Extreme. Die Koloraturen gelingen ihr mühelos und fein ausgearbeitet, den verzweifelten Lebensmut und stolzen Trotz der Cabaletta „Sempre libere“ schmettert sie mit umwerfender Wucht in den Saal, dabei jederzeit präzise und in allen Tonlagen souverän. Zugleich ist Lungu hinreißend zart und zerbrechlich in den leiseren Passagen; wer bei ihrem „Teneste la promessa“ nicht mitleidet, kann kein Herz haben.
Dass Violetta in der Traviata nahezu keine Pausen hat, verlangt ihren Interpretinnen nicht nur sängerisch sehr viel ab, es bringt auch hohe Anforderungen an die Bühnenpräsenz mit sich. Irina Lungu erfüllt diese Anforderungen in beeindruckender Art und Weise, sie verkörpert die Violetta jederzeit glaubwürdig und stellt den Widerspruch zwischen ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Opferbereitschaft – immer vor dem Hintergrund des unausweichlichen, nahen Todes – auch schauspielerisch erstklassig dar. Es ist den ganzen Abend über ein reiner Hochgenuss, sie auf der Bühne zu erleben.
Eine exzellente Chemie besteht an diesem Abend mit Simone Piazzola, der einen begeisternden Giorgio Germont darbietet. Sein Bariton klingt in jeder Höhe voll und brillant, und insbesondere im Zusammenspiel mit Lungu entsteht eine Magie, die das Publikum voll in ihren Bann zieht. Ob nun im Duett „Pura siccome un angelo“ oder im Cantabile „Und dì, quando le veneri“ – sein Germont erscheint hier gar nicht so sehr wie der Heuchler, der sein Mitgefühl für Violetta lediglich taktisch motiviert behauptet. Stattdessen nimmt man ihm eine gewisse Zerrissenheit ab, seine Anerkennung für Violettas persönliche Qualitäten, die sie aber dennoch nicht zur gesellschaftlich legitimen Partnerin seines Sohnes machen.
Bemerkenswert auch, dass sich Violetta und Germont zwar nicht umarmen, wie es im Libretto eigentlich vorgesehen ist, sich wohl aber sehr vertraut bei den Händen halten. Man könnte auch sagen: Sie eint eine resignative Koalition von Menschen, die sich bewusst sind, dass sie etwas Falsches tun, aber nicht die Macht (Violetta) bzw. den Mut (Germont) haben, sich dagegen ernstlich aufzulehnen.
Stephen Costellos Alfredo kann mit den herausragenden Leistungen von Lungu und Piazzola nicht ganz mithalten. Seine Leidenschaft bleibt weitgehend Behauptung, er agiert eher statisch und stimmlich klingt er gelegentlich etwas eng. Das ist weit weg von einer schwachen Leistung, doch im direkten Vergleich fällt er eben doch ein wenig ab. Allerdings hat es sein Alfredo auch nicht ganz leicht, in Eraths Inszenierung die Sympathien der Zuschauer zu gewinnen. Die Demütigungsszene im zweiten Akt mehr oder wenig explizit als Vergewaltigung zu gestalten, schafft jedenfalls eine klare Distanz zu einer Figur, deren Handeln an dieser Stelle auch mit der Hinterlistigkeit des Vaters nicht entschuldigt werden kann.
Die übrigen Solistinnen und Solisten fügen sich ohne besondere Auffälligkeiten ins Ensemble ein. Etwas eigentümlich ist allerdings der Douphol, den Johánn Kristinsson auf Geheiß der Regie als bemitleidenswerte Figur ausgestaltet. Der mutmaßliche Versuch, das auch gesanglich rüberzubringen, wirkt leider eher schwächlich als zerbrechlich.
Im Dirigat von Robert Rizzi Brignoli ist das starke Bemühen um eine Extra-Dosis an Italianità erkennbar. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg folgt ihm auf diesem Weg weitgehend überzeugend, überlässt die Aufmerksamkeit aber doch zuvorderst den Sängerinnen und Sängern – gut so. In der Abstimmung mit dem Chor wackelt es manchmal, insbesondere am Anfang. Da die Chormitglieder auf der Bühne allerdings auch häufig kreuz und quer stehen, kommt möglicherweise nicht immer der volle Schalldruck im Auditorium an, es klingt bisweilen etwas diffus. Den kleinen „Leistungswettbewerb“ im zweiten Akt gewinnen jedenfalls ziemlich klar die Sängerinnen gegen ihre männlichen Kollegen: Der Chor di Zingare klingt forsch und lebendig, während der Chor di Mattadori in seiner Dynamik dann doch recht passend durch die ausrangierten Autoscooter illustriert wird.
Am Ende starker Beifall für alle Beteiligten, insbesondere die drei Hauptrollen.
Guido Marquardt, 16. März 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musikalische Leitung: Roberto Rizzio Brignoli
Inszenierung: Johannes Erath
Bühnenbild: Annette Kurz
Kostüme: Herbert Murauer
Licht: Olaf Freese
Dramaturgie: Francis Hüsers
Chor: Christian Günther
Spielleitung: Petra Müller
Violetta Valéry: Irina Lungu
Floran Bervoix: Ruzana Griogrian
Annina: Marta Swiderska
Alfredo Germont: Stephen Costello
Giorgio Germont: Simone Piazzola
Gastone: Peter Galliard
Il Barone Douphol: Johánn Kristinsson
Il Marchese d’Obigny: Shin Yeo
Il Dottore Grenvil: Alin Anca
Giuseppe: Dongwon Kang
Un Domestico di Flora: Gheorge Vlad
Un Commissionario: Peter Veit
Ein Akkordeonist: Jakob Neubauer