Foto: © Wilfried Hösl
Giuseppe Verdi, Simon Boccanegra
Bayerische Staatsoper, München, 30. November 2017
von Raphael Eckardt
Tragische Schicksalsschläge, zwielichtige Machtspiele, temperamentvolle italienische Familienstreitereien. Mit Giuseppe Verdis wohl düsterster Oper steht in München derzeit eine verheißungsvolle Produktion auf dem Spielplan, die einen südsommerlichen Abend im kalten deutschen November verspricht. Nicht zuletzt, weil Dmitri Tcherniakov eine alte Thematik als modernes, mafioses Machtspiel inszeniert. Mit jeder Menge Intrigen und einer gewaltigen Portion Spannung.
Das Gespenst ist in Tcherniakovs Inszenierung lediglich ein Bild. Gedankenlos hängt es in seinem Raum, wird hier und da auf die gesamte Szenerie projiziert: Straßenecken, Kneipen, alles ist von einem mystischen Nebel umgeben, der von seiner bedrohlichen Leere lebt – da fühlt man sich erinnert an die einsamen Bilder des amerikanischen Realismus. Eine Sphäre, in der Boccanegras Aufstieg einst so furios begonnen hatte. Nein, nein, das Volk hat Boccanegra nicht gewählt! Eine Armada aus mächtigen Trenchcoatpuppen hatte ihn instrumentalisiert und beinahe ein wenig missbrauchen wollen. Alles ist in grauen Tönen gehalten. Und selten waren Grautöne im Münchner Winter so warm und sagenumwoben wie an diesem Abend!
Bereits vor einigen Jahren feierte Tcherniakovs „Simon Boccanegra“ in München Premiere. Die Kritiken der Tagespresse von damals darf man getrost als verhalten bezeichnen. Nur: Sich darüber wundern, darf man mindestens genauso. Freilich, als konservativer Opernbesucher mag man dem russischen Regisseur schnell eine Portion unkreativen Küchen-Realismus vorwerfen, der sich seit Millers „Mafia-Rigoletto“ in den 1970er-Jahren wie ein Virus auf den Opernbühnen dieser Welt auszubreiten droht. Wer aber ein wenig genauer hinschaut, erkennt hinter trostloser Fassade einen Farbenreichtum an Tiefgrund und Intrigen, der sich weit in den Herzen der Hörer festsetzen kann. Wenn er denn erkannt wird!
Viele große Gefühle werden von Tcherniakov im Minimalistischen verarbeitet: Amelia und Adornos Liebeszene wirkt teilweise ein wenig verhalten, Simon Boccanegra mag zu Beginn gar nicht glauben, seine Tochter wiedergefunden zu haben. Nun, der eine mag diese durchaus unabstreitbare Gefühlsverschlossenheit als „russische Krankheit“ bezeichnen. An diesem Abend aber legt sie im Vergleich zu anderen Verdi-Produktionen den Fokus auf etwas Wunderbares, Ungreifbares, das sonst im Jubeltaumel großer Emotionen oft verborgen bleibt: Auf die geniale Klarheit dieser fantastischen Musik.
Großen Anteil daran hat der Dirigent Bertrand de Billy, der Verdis Musik zwar einfühlsam, aber nicht mitleidig interpretiert. Geschickt werden einzelne Motive zu einer Einheit kombiniert, die in hellen Farbtönen leuchtende Funken gen Publikum schleudert. Wohl dosiert, in gleichmäßigem Abstand gleiten sie da dahin. Plötzlich treibt de Billy das wieder einmal glänzend aufgelegte Bayerische Staatsorchester in scharfe Fortissimosphären. Ein Feuersturm zieht auf! Tremoli in den Violinen, massive Bassstrukturen! Mein lieber Freund, das ist ein musikalisches Feuerwerk der Extraklasse. Auf einmal ist alles vorbei: Geschickt lenkt de Billy sein Orchester in ruhigere Wässer. Mezzopiano, leichter Wellengang: Nach einer kurzen Verschnaufpause wird erneut ein feuriger Anlauf ins Fortissimo genommen. Chapeau!
Sängerisch darf man diesen „Boccanegra“ zweifelsohne als gewohnt meisterhaft bezeichnen. Vor allem Serena Farnocchia als Amelia und Kim Wookyung als Gabriele Adorno können an diesem Abend gemeinsam brillieren. Perfekt ergänzen sich da die weichzarten Farbtöne der italienischen Sopranistin mit dem stählernen Durchhaltevermögen des koreanischen Tenors. Das ist unfassbar gut interpretiert! Auf einem massiven, stählernen Gerüst erhebt sich Farnocchias engelsgleiche Stimme und schwingt sich sanft zum Tanze auf. Hier eine zarte Phrasierung, dort ein verheißungsvoller Spannungsbogen. Alles mündet in ein riesiges Flussdelta, um anschließend als imposante Einheit gen Horizont zu ziehen. Liebliche Rottöne, durchzogen von den markant grauen Linien von Tcherniakovs Tristesse. Da wirkt an diesem Abend alles, aber wirklich alles, unfassbar authentisch! Weil sich niemand verbiegt und alle Mitwirkenden Gefangene ihrer eigenen Emotionen zu sein scheinen. Fabelhaft!
Mit Željko Lučić als Simon Boccanegra hat man dann vollends in Schwarze getroffen. Denn auch in München hat man eine Verdi-Darbietung von dieser Klasse bisher nur ganz selten hören dürfen. Lučić brilliert, leistet sich nicht den kleinsten Wackler und vollendet ein imposantes musikalisches Bild zur Perfektion. Mit unfassbar präziser Artikulation und wohlüberlegter Agogik gibt sich der Serbe als Virtuose vor einer riesigen Leinwand: Hier und da sind Kirschbäume zu sehen. Mit feinen Pinselstrichen lässt er sie in weißem Glanz erblühen. Hier ein kleiner Farbton, dort eine zart geschwungene Wölbung. Das, was Lučić an diesem Abend macht, hat nicht nur Hand und Fuß, sondern ist der Beweis dafür, dass dieser Bariton endgültig in der Weltklasse der Opernstars angekommen ist.
Überhaupt, der ganze Abend ist von musikalischer Meisterhaftigkeit durchwoben. Vitalij Kowaljow als Jacopo Fiesco, Boris Pinkhasovich als Paolo Albiani und Alexander Milev als Pietro glänzen durch stimmlichen Facettenreichtum, interpretatorische Feinfühligkeit und grandiose Mannigfaltigkeit. Ja, da erinnert man sich als Münchner wieder gerne daran, welch Glück man doch hat, in dieser Stadt mit diesem großartigen Opernhaus zu leben. Mit immerwährender sängerischer Meisterklasse, die jedes mal aufs Neue erstaunt und aufgrund ihrer immer wieder neu hervorgerufenen Begeisterung dennoch nie zur bequemen Gewohnheit zu werden droht.
Man darf hoffen, dass dieser „Simon Boccanegra“ dem Münchner Opernspielplan auch nach der aktuellen, erneuten Wiederaufnahme weiterhin erhalten bleibt. Selten wurde eine Verdi-Oper so gut und so modern inszeniert und interpretiert wie diesmal. In der „nördlichsten Stadt Italiens“ bleibt ein feurig süditalienischer Abend in Erinnerung, der zwar nicht durch seine typisch italienische Inszenierung bestach, dafür aber durch einen mafiosen Mythos, der das Münchner Opernpublikum vollends in seinen Bann zog. Ganz unscheinbar, ganz unbemerkt und von fantastischer musikalischer Klasse.
Raphael Eckardt, 1. Dezember 2017, für
klassik-begeistert.de