Foto: Riccardo Muti © SF / Marco Borrelli
Großes Festspielhaus Salzburg, 17. August 2020
Ludwig van Beethoven: Neunte Sinfonie
Asmik Grigorian, Sopran
Marianne Crebassa, Alt
Saimir Pirgu, Tenor
Gerald Finley, Bass
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor
Wiener Philharmoniker
Leitung: Riccardo Muti
von Kirsten Liese
Es ist das Konzert, über das alle reden: Beethovens Neunte in Salzburg. Ohne Riccardo Muti wäre das vermutlich nichts geworden. Der ist eben nicht nur ein genialer, sondern auch ein mutiger, kompromissloser Künstler – eine Instanz. Ihm stellt sich niemand in den Weg, noch nicht einmal die Politik. Wenn der Maestro an der Neunten festhalten will, dann macht er das. Mit Chor.
Den Ereiferern, die der Meinung sind, dass Chöre derzeit noch nicht auf die Bühne gehören, sei in Erinnerung gerufen, was Daniel Barenboim vor einigen Jahren antwortete, als er dafür angegriffen wurde, zum ersten Mal Musik von Wagner in Israel gespielt zu haben: Niemand wird dazu gezwungen, sich das anzuhören. Wer daran Anstoß nimmt, kann gehen, sollte aber andere nicht daran hindern, es zu erleben. Der Hunger nach Musik ist groß. Davon konnte ich mich zuvor auch auf anderen österreichischen Festivals (Styriarte, Grafenegg) überzeugen. Die Leute strömen herbei, auch wenn zu befürchten steht, ein Konzert könne wegen schlechten Wetters ausfallen. Das sollte sich hinter die Ohren schreiben, wer die „Systemrelevanz“ von Musik in Abrede stellt.
Natürlich waren alle Mitwirkenden getestet, andernfalls würde vermutlich selbst ein so renommiertes Festival wie Salzburg Schwierigkeiten bekommen. Ansonsten aber stellte Muti selbstbewusst die Normalität im Konzertbetrieb mit den Wiener Philharmonikern, der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor und Solisten wieder her. Will heißen, die Abstandsregeln erscheinen nicht mehr ganz so sklavisch wie noch vor anderthalb Monaten bei seinem Konzert mit dem Luigi Cherubini Orchester in Ravenna.
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Die Musikerinnern und Musiker sitzen wie gewohnt zu zweit an einem Pult, der Chor nimmt ganz gewöhnlich Stellung, auch stellt sich das Orchester wieder größer auf. Ich habe immerhin acht Kontrabässe gezählt, was sich im Finalsatz auszahlt, wo die Bassgruppe im Unisono das Thema der Ode „An die Freude“ einleitet. In der Cellogruppe entdeckte ich einen einzigen Spieler mit Maske. Solisten, Chor und Muti traten ohne Maske auf, Muti, den ich auch Backstage nie mit einer gesehen habe, hat vermutlich gar keine.
Die Aufführung selbst, für die es nur sehr wenige Pressekarten gab, weshalb ich mir eine Karte gekauft habe, war eine einzige Sternstunde! Sie stand dem fulminanten Verdi-Requiem, das Muti im vergangenen Jahr am selben Ort brachte, in nichts nach.
Die ersten beiden Sätze, „Allegro ma non troppo“ und „Molto vivace-Presto“ zeugten an dem von mir besuchten dritten Termin von einer unerhört aufwühlenden Dramatik. Die Bewegtheit und Dankbarkeit der Musizierenden, das Stück in der Situation realisieren zu dürfen, spielte da gewiss hinein. Manchmal, wenn Muti beide Hände nach oben erhebt, hat es fast den Anschein als wolle er sagen, lieber Beethoven, setze Corona ein Ende und lass das Musikleben wieder erstrahlen. Ansonsten dirigiert er so wie ich ihn kenne: mit klaren Zeichen ohne großen Aufwand und ohne jegliche Show auf dem Podest. Und natürlich ist diese Neunte klanglich dichter dran an Karajan und Christian Thielemann als an Nikolaus Harnoncourt und den Veteranen der historischen Aufführungspraxis.
Immerhin ein Gutes bringt Corona sogar mit sich: Wohl aus Angst, in den Verdacht zu geraten, man könne am Virus erkrankt sein, wagte sich niemand im Publikum – zugelassen waren 1000 Zuschauer, Konzert ausverkauft – zu räuspern oder gar zu husten. Und so kam man in den Genuss eines einzigartigen ungestörten Hörerlebnisses. Jedes noch so kleine Motiv, ob die markanten Fagott-Soli im zweiten Satz oder Flöten, Oboen und Klarinetten mit lyrischen Einwürfen und kurzen Überleitungen wurden im aufgefächerten Panorama in der denkbar größten Plastizität hörbar. Was für ein Erleben!
In einer Kritik las ich, das Adagio würde bei Muti im langsamen Tempo angeblich zerfasern. Der Meinung schließe ich mich nicht an. Im Gegenteil: Das langsame Tempo kam der inniglichen Melodie, die sich durch den Satz zieht, bestens zugute. Es tönte zärtlich leise und berührte mich zutiefst.
Was für ein starker Moment dann, als die acht Kontrabässe zum großen Götterfunken-Finale überleiteten. Fortan steigerte sich die Musik bis in die großen Choreinsätze hinein majestätisch zu einem Triumph. Einzig die Sopranistin Asmik Grigorian, vortrefflich noch aus dem vergangenen Jahr als Salome in Erinnerung, tönte in den Spitzen ihres Sopransolos etwas eng. Der Part liegt ihr offenbar weniger. Ihre Kollegin Elsa Dreisig, die sich neben der Altistin Marianne Crebassa schon in der Salzburger Così fan tutte mit luziden Kopftönen als Fiordiligi empfohlen hatte, hätte ihn vermutlich mit schönerer Tongebung gestaltet. Aber das ist der einzige kritische Gedanke, der mir an diesem so beglückenden Vormittag durch den Kopf geht.
Wie schön, dass man bei der Gelegenheit seine Begeisterung endlich auch einmal wieder zeigen konnte. Ich war jedenfalls nicht die einzige Bravo-Ruferin aus dem Rang.
Das Konzert kann im Stream bis 16. September noch nachgehört werden unter:
https://www.arte.tv/de/videos/098981-004-A/riccardo-muti-und-die-wiener-philharmoniker-spielen-beethoven/
Kirsten Liese, 19. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Mozart, Così fan tutte Salzburger Festspiele, 2. August 2020, Livestream