Grigory Sokolov © Oscar Tursunov
Ein Abend, der noch lange in der Erinnerung nachklingt. Keine große Geste, kein Pathos, sondern stille Größe. Ganz Sokolov eben.
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 8. Mai 2025
Grigory Sokolov, Klavier
William Byrd
John come kisse me now (1609–1619)
The First Pavan and Galliard (1591)
Fantasia
Alman in G MB 89 (1609–1619)
Pavana »The Earl of Salisbury«
Galliard Nr. 2 »The Earl of Salisbury«
Callino Casturame. Variationen in C MB 35 (1609–1619)
***
Johannes Brahms
Vier Balladen op. 10 (1854)
Rhapsodie h-moll op. 79/1 (1879)
Rhapsodie g-moll op. 79/2 (1879)
von Kathrin Schuhmann
Wenn sich an einem lauen Frühlingsabend in Wien die Türen des Konzerthauses öffnen und sich erwartungsvolle Zuhörer in langen Reihen bis hinaus auf die Lothringerstraße drängen, um einem Solisten wie Grigory Sokolov zu lauschen, ist eines gewiss: Heute wird nicht blanke Virtuosität, nicht äußerer Glanz präsentiert, sondern jene rare Form musikalischer Tiefe, die der russische Pianist seit Jahrzehnten auf unvergleichliche Weise zu vermitteln weiß.
Das Programm dieses Abends war, wie so oft bei Sokolov, ein gewagter Dialog zwischen Jahrhunderten: Renaissance und Spätromantik, zwei scheinbar weit voneinander entfernte Klangwelten, trafen aufeinander – und doch fügte sich unter seinen Händen alles zu einem stimmigen Ganzen.
Mit der Musik William Byrds eröffnete Sokolov den Abend ungewöhnlich leise – und doch nicht minder intensiv. Die fein ziselierten Tänze, Fantasien und Variationen aus der Feder des englischen Komponisten erschienen unter seinen Händen nicht als museale Stücke aus ferner Zeit, sondern als atmende, sprechende Gebilde voller Würde, Sehnsucht und innerem Glanz.
Der Klang war dabei von einer asketischen Klarheit, fast gläsern, und zugleich reich an Nuancen. Besonders in der Pavana „The Earl of Salisbury“ zeigte Sokolov ein untrügliches Gespür für die architektonische Strenge und gleichzeitig emotionale Subtilität dieser Musik. Auch das schalkhafte Moment, das in den tänzerischen Stücken wie dem „Alman in G“ aufblitzt, vergaß er nicht, sondern gab es in feiner Ironie zu erkennen – ganz ohne die Aura kontemplativer Ruhe zu stören, die sein Spiel stets begleitet.
Nach der Pause führte Sokolov das Publikum in die seelischen Abgründe der Romantik – und zu einem Komponisten, dem er seit vielen Jahren treu verbunden ist: Johannes Brahms. Die Vier Balladen op. 10, 1854 inmitten persönlicher Umbrüche entstanden, präsentierte Sokolov mit einer Mischung aus Erzählfreude und melancholischer Zurückhaltung. Die erste Ballade, inspiriert von der schottischen Legende „Edward“, klang unter seinen Händen wie ein düsteres Epos, streng im Rhythmus, doch voller dramatischer Spannungen.
Besonders berührend geriet die dritte Ballade: Die Klangfarben dunkelten sich ein, der Anschlag wurde weicher, das Tempo floss freier. Hier offenbarte sich jene poetische Tiefe, für die sein Spiel seit jeher bewundert wird.
Die beiden Rhapsodien op. 79, oft als temperamentvolle Gegenstücke zur introvertierten Klangwelt der Balladen gelesen, deutete Sokolov nicht als Ausbruch oder Überwältigung, sondern als gesteigerte Innenschau.
Die h-moll-Rhapsodie erschien unter seinen Fingern wie ein einziger, atmender Spannungsbogen – weit gespannt und voller eruptiver Kontraste. In der g-moll-Rhapsodie schließlich wirbelten Energie, Zartheit und kantige Kraft zu einem packenden Finale, das im Publikum beinahe körperlich spürbar wurde.
Natürlich endete der Abend nicht ohne die berühmten Zugaben. Ein Abend, der noch lange in der Erinnerung nachklingt. Keine große Geste, kein Pathos, sondern stille Größe. Ganz Sokolov eben.
Programm:
William Byrd
John come kisse me now (1609–1619)
The First Pavan and Galliard (1591)
Fantasia
Alman in G MB 89 (1609–1619)
Pavana »The Earl of Salisbury«
Galliard Nr. 2 »The Earl of Salisbury«
Callino Casturame. Variationen in C MB 35 (1609–1619)
***
Johannes Brahms
Vier Balladen op. 10 (1854)
Rhapsodie h-moll op. 79/1 (1879)
Rhapsodie g-moll op. 79/2 (1879)
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Zugabe:
Frédéric Chopin
Mazurka c-moll op. 30/1 (1836–1837)
Mazurka cis-moll op. 50/3 (1842)
Jean-Philippe Rameau
Les sauvages g-moll (Nouvelles suites de pièces de clavecin Nr. 14) (1728 ca.)
Frédéric Chopin
Mazurka h-moll op. 30/2 (1836–1837)
Mazurka a-moll op. 68/2 (1827)
Prélude c-moll op. 28/20 (1836–1839)
Klavierabend Grigory Sokolov Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 22. Mai 2024