Das Ende kommt vor dem Anfang
Simon Boccanegra steht in Hagen Kopf

Guiseppe Verdi, Simon Boccanegra, Theater Hagen, 29. September 2018

Foto: Veronika Haller (Maria alias Amelia Grimaldi), Xavier Moreno (Gabriele Adorno), Kenneth Mattice (Paolo Albiani) –
© Klaus Lefebvre (alle Rechte Theater Hagen)

Guiseppe Verdi, Simon Boccanegra, Theater Hagen,
29.
September 2018 (Premiere)

von Ingo Luther

Auf mittlerweile 107 Jahre seines Bestehens kann das kleine Hagener Theater zurückblicken. Große Namen der Oper wie Edda Moser, Hellen Kwon, Stefan Adam und Johan Botha verdienten sich hier bereits ihre ersten Sporen. Der fruchtbare Boden für einen spektakulären Verdi-Abend schien also bereitet.

Aber ausgerechnet Simon Boccanegra!? Kaum ein Werk von Verdi erzählt solch eine verworrene Story und stellt den Theaterbesucher mit mehreren Namens- und Identitätswechseln der handelnden Personen vor derart viele Rätsel. Sicherlich würde diese Oper weitaus häufiger aufgeführt, wenn das Libretto nicht Generationen von Opernfans vor eklatante Verständnisprobleme gestellt hätte. Auch das Theater Hagen ließ sich knapp 50 Jahre Zeit, um dieses Stück wieder auf die Bühne zu bringen. Das westfälische Opernpublikum scheint diesen Abend nicht unbedingt herbeigesehnt zu haben – etwa die Hälfte der 800 Plätze bleiben an diesem Premieren-Abend leer!

Das Regieteam von Magdalena Fuchsberger versucht sich bei dieser Ko-Produktion mit dem Theater Lübeck an einem völlig neuen Zugang zu der Geschichte. Im Vorfeld ließ die Regisseurin bereits ankündigen, mit ihrer Interpretation von Simon Boccanegra den Abgesang des Patriarchats auf der Hagener Bühne zelebrieren zu wollen. Ein großes Vorhaben, zu dessen Umsetzung sie das in der Zweitfassung von 1881 gespielte Werk komplett auf den Kopf stellt.

Das Stück wird eingebettet in die Schlussansprache aus dem Film „Der große Diktator“ von Charlie Chaplin, einem flammenden Appell für Frieden und Menschlichkeit, gegen Intoleranz und Hass. Diese erschallt zu Beginn aus einem von der Decke herabgelassenen, blechernen Lautsprecher, am Ende wird sie von Amelia (Veronika Haller) unter dem fallenden Vorhang rezitiert. Nun werden sämtliche Begriffe jedoch in der weiblichen Form verwendet. Ein plakativer Effekt, durchaus en vogue in Zeiten von „MeToo“ und einem kritischen Blick auf die Mächtigen (Männer) dieser Welt, der als großer Rahmen für die Gesamthandlung dennoch sehr konstruiert und befremdlich über die Rampe kommt.

Darüber hinaus nimmt Magdalena Fuchsberger an dem Stück eine Art Operation am offenen Herzen vor. Die Geschichte beginnt inmitten des 3. Aktes, in dem Simon Boccanegra und der intrigante Paulo Albiani ihrem nahenden Tod durch Vergiftung bzw. Hinrichtung entgegensehen. Nach dem eigentlichen Ende der Oper folgt der Prolog und der ursprüngliche Beginn des Werkes. Der Pausenschnitt erfolgt relativ willkürlich mitten im 1. Akt. Die Argumentation der Regie, hierdurch die Rolle der Amelia als Hoffnungsträgerin aufzuwerten und die Geschichte der einzig handelnden Frau herauszuheben, erschließt sich dabei nicht. Die ohnehin von vielen Wirrungen gespickte Story erhält damit noch eine zusätzliche Umleitung, die das Publikum sichtbar rat- und orientierungslos alleine lässt.

Die Bühne von Monika Biegler präsentiert eine gefühlt schon in unzähligen Produktionen erlebte Kulisse aus dunkel getäfelten Räumen mit Sitzgarnituren, Schreibtischen und Bürostühlen eines schwedischen Möbelhauses. Durchgangstüren sorgen dafür, dass die Protagonisten ständig von einem Raum in den anderen wechseln. Der nahezu ständige Einsatz der Drehbühne sorgt dabei für eine Art Karussell-Effekt, der das Bühnengeschehen nur selten zur Ruhe und damit zur Entfaltung der musikalischen Qualitäten der Partitur kommen lässt.

Steht die Bühne dann einmal still, gelingen die wirklich anrührenden und visuell beeindruckenden Momente des Abends. Wenn die Lichttechnik für eine Simulation der wellenartigen Bewegungen des Meeres sorgt, wenn die handelnden Personen sich auf sich selbst konzentrieren und nicht von einem Raum in den anderen hetzen müssen, dann blitzt große Oper auf. Leider geschieht dies viel zu selten, und die Handlung wird durch die ständige Unruhe und die Bewegung auf der Bühne getrieben und verzerrt.

Stellt sich die Frage, kann das Publikum mit dieser gravierenden Umstrukturierung des Werkes intellektuell umgehen? Der erst kurz vor Beginn der Aufführung hastig erscheinende Besucher muss sich ohne den Einführungsvortrag des Intendanten Francis Hüsers und ohne eingehendes Studium des Programmheftes wohl unweigerlich wie im falschen Film fühlen. Er erlebt diesen Simon Boccanegra quasi auf dem Kopf stehend und Karussell fahrend. Die stellenweise heftigen Unmutsäußerungen gegenüber dem Regieteam beim Schlussapplaus stehen sinnbildlich für manchen, etwas ratlos in seinem Theatersessel  zurückgelassenen Premieren-Besucher.

Weitaus positiver sind die musikalischen Eindrücke an diesem Premieren-Abend. Joseph Trafton hat zu Beginn seiner zweiten Saison als Generalmusikdirektor einen wunderbaren  Zugriff auf das Philharmonische Orchester Hagen. Hier wird ein saftiger Verdi musiziert, der den Sängern jederzeit Raum lässt . Die lyrischen Stellen der Partitur werden bis in das feinste Detail ausgeleuchtet. Das ist Tonmalerei auf hohem Niveau.

Kwang-Keun Lee verkörpert den Dogen Boccanegra mit seinem angenehm dramatischen Bariton und seiner seriösen, großherzigen Bühnenpräsenz. Ihm nimmt man ab, dass Frieden und Menschlichkeit und die Liebe zu seiner wiederentdeckten Tochter die Eckpfeiler seines Lebens bilden.

Die Stimme von Veronika Haller ist über die Jahre stetig gewachsen. Nach ihren Interpretationen solcher Frauen wie der Marguerite im Faust, ihrer Senta oder ihrer Floria Tosca in der vergangenen Spielzeit, ist die Amelia kein Problem für sie. Ihr gelingen gerade die innigen, emotional aufgeladenen Passagen bei der Erkennung ihres Vaters oder auch ihr Liebesduett mit Gabriele leuchtend und mühelos. Ihr bombensicher geführter, jugendlich-dramatischer Sopran empfiehlt sich zunehmend auch für größere Häuser.  Leider mutiert ihre Interpretation der Amelia am Ende zu einer Art rastloser Möbelpackerin. Die Regie lässt sie singen während sie Sitzgruppen, Bürostühle und ganze Schreibtische von der Drehbühne räumen muss. Hier wird die Grenze zum Lächerlichen bedauerlicherweise überschritten.

Xavier Moreno sorgt als feuriger Geliebter Gabriele Adorno für die italienischen Temperamentsausbrüche an diesem Abend. Sein kraftvoller, strahlender Tenor ist zu jeder Zeit ein beeindruckendes Erlebnis. Auch die Spitzentöne kommen ohne jeden Wackler und mit ungeheurer Intensität. Immer wieder lassen sich Anklänge an seine Paraderolle als Mario Cavaradossi spüren.

Dong-Won Seo ist ein Neuzugang im Ensemble des Hagener Theaters und feiert als Jacopo Fiesco alias Andrea einen vielversprechenden Einstand. Mit Kenneth Mattice als Paolo Albiani und Valentin Anikin als Pietro sind die Rollen der intriganten Aufständischen hervorragend besetzt. Eindrucksvoll gestaltet Mattice die Szene, als Boccanegra ihm den Fluch über den Auftraggeber von Amelia Entführung – also sich selbst – abringt.

Mit dem Hagener Urgestein Richard van Gemert als Hauptmann und Andrea Kleinmann als Magd sind auch die kleineren Rollen bestens besetzt. Chor und Extrachor des Theaters Hagen unter der Leitung von Wolfgang Müller-Salow sind in ihren Einsätzen präsent und ausdrucksstark. Insbesondere die Ratssaal-Szene im 1.Akt zeigt die stimmlichen Kraftressourcen der Chöre in gewaltigem Maße auf.

Die Regie um Magdalena Fuchsberger scheitert letztlich bei dem Versuch, Simon Boccanegra in radikal umstrukturierter Form als massenkompatibles Verdi-Spektakel auf die Bühne zu bringen. Die ohnehin verworrene Story aus dem Genua des 14. Jahrhunderts erfährt durch die gewählte Art der Interpretation keinen wirklichen Gewinn an Schlüssigkeit und Attraktivität.

Musikalisch hat das kleine Hagener Theater einmal mehr seine Möglichkeiten voll ausgeschöpft und eindrucksvoll bewiesen, dass es über ein felsenfestes Standing inmitten der benachbarten Konkurrenzhäuser in Dortmund, Wuppertal oder Gelsenkirchen verfügt. Anhaltender Applaus für Solisten, Chor und Orchester sind der mehr als verdiente Lohn für einen musikalisch hochwertigen Abend.

Einige kräftige Buh-Rufe und die ansonsten ratlose Zurückhaltung beim Erscheinen des Regieteams auf der Bühne zeigen deutlich, dass diese Interpretation von Simon Boccanegra am Ende nicht aufgegangen ist. Wenn nur noch flankierende Pressebeiträge im Vorfeld, einleitende Worte des Intendanten am Premieren-Abend oder ein detailliertes Studium des Programmheftes den Zugang zu einem Werk sicherstellen können, dann ist der normale Theaterbesucher schlichtweg überfordert. Bleibt die bange Frage, wie man in Hagen die Tickets für die zehn noch folgenden Aufführungstermine verkaufen möchte. Eine nur halb besetzte Premieren-Vorstellung sollte ein Warnsignal in Bezug auf die Auswahl des gewählten Interpretationsansatzes sein. Wer die Augen schließt und die wunderbar musizierten Höhepunkte in Verdis Partitur auf sich Wirken lässt, der wird auch in Hagen einen grandiosen Verdi-Abend erleben.

Ingo Luther, 30. September 2018,
für klassik-begeistert.de

Musikalische Leitung, Joseph Trafton
Inszenierung, Magdalena Fuchsberger
Bühne,Monika Biegler
Kostüme, Kathrin Hegedüsch
Licht, Achim Köster
Video, Aron Kitzig
Chor, Wolfgang Müller-Salow
Dramaturgie, Francis Hüsers
Maria alias Amelia Grimaldi, Veronika Haller
Simon Boccanegra, Kwang-Keun Lee
Jacopo Fiesco alias Andrea, Dong-Won Seo
Gabriele Adorno, Xavier Moreno
Paolo Albiani, Kenneth Mattice
Pietro, Valentin Anikin
Hauptmann, Richard van Gemert
Magd Amelias, Andrea Kleinmann

Philharmonisches Orchester der Stadt Hagen
Chor und Extrachor Theater Hagen

Ein Gedanke zu „Guiseppe Verdi, Simon Boccanegra, Theater Hagen, 29. September 2018“

  1. Der Lichttechniker war ein Video-Künstler mit dem Namen Aron Kitzig…. wenn schon sich über alles lustig machen, dann doch aber bitte beim Namen nennen.

    Aron Kitzig

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