Foto: Igor Strawinsky im Alter von 18 Jahren, de.wikipedia.org
„Russen, die ich liebe!“
von Harald Nicolas Stazol
“Il détruit le Clavier!” – er zerstört das Klavier, das sagten die Tänzer der Ballets Russes, als Igor Strawinsky seinen „Sacre de Printemps“ dem Corps de Ballet vorspielt.
Bei den Proben, und noch heute kann mein konservativer, bester Freund Jan diese Moderne nicht ertragen.
Ein Dîner gab es, an dem man gerne teilgenommen hätte, irgendwann im Jahr 1922: James Joyce, Marcel Proust, Picasso und Sergei Djagilew saßen zu Tisch, bei Pariser Mäzenen, und es soll in der Blüte einer ganzen Epoche stehen.
Djagilew ist ein Phänomen, das man seinesgleichen vielleicht nur noch in John Neumeier findet, aber das mag hanseatischer Patriotismus sein, – gebildet in den Soireen des alten russischen Reiches, beliebt, geliebt, und als es Russland hinwegfegt, bleibt er, der Verwöhnte, stammend aus einer alten Familie eher niedrigen Adels, übrig. So wie Prinz Youssopow, einer der Mörder Rasputins – wir erinnern uns, im Palais Youssupow spielte der Yankee Doodle auf einem Grammophon, als man den Zerstörer des Landes um die Ecke bringt, erst mit Arsen, dann schießt man, schließlich erschlägt der junge Kouragin den noch Wegkriechenden mit einer schweren Kette, sie werfen den Dämon in die Neva… nun der Prinz, der einen Rolls Royce eher hatte, als der junge, so unerfahrene Zar, – nun, er wird bald der beste Taxifahrer von ganz Paris sein, da ist Djagilew schon dort.
Recht eigentlich ist er immer schon dort, er weiß es nur noch nicht.
Denn als er mit seiner Balletttruppe dortselbst eintrifft, 1913, wird er epochal.
Wir wollen nichts beschönigen, der Sacre wird zum veritablen Skandal. Schließlich handelt es sich ja um ein Menschenopfer, die Leute lachen, als die Tänzer in Stampfen ausbrechen, nein schon vorher, beim Einsetzen der Oboe. Der Kritiker des Figaro schreibt:
„Die Bühne repräsentierte die Menschenheit: Rechts pflücken starke junge Leute Blumen, während eine 300 Jahre alte Frau wie wahnsinnig herumtanzt. Am linken Bühnenrand studiert ein alter Mann die Sterne, während hier und da dem Gott des Lichtes Opfer gebracht werden. Das konnte das Publikum nicht schlucken. Es pfiff das Stück umgehend aus. Vor einigen Tagen hätte es vielleicht applaudiert. Die Russen, die nicht besonders vertraut mit dem Anstand und den Gepflogenheiten der Länder sind, die sie besuchen, wussten nicht, dass die Franzosen ohne weiteres anfangen zu protestieren, wenn die Dummheit ihren Tiefstpunkt erreicht hat”
Wie man sich irren kann!
Es muss 1994 gewesen sein, als das Marinsky den Sacre in der Hamburger Staatsoper mit dem originalen Bühnenbild und den Kostümen des Léon Bakst gab, damals konnte ich mir 180 DM einfach so leisten. Sie waren bestens angelegt.
Um einen Eindruck dessen zu bekommen, empfehle ich die Pariser Inszenierung in einer ARTE Sendung, die auf YouTube verfügbar ist – es werden Ihnen die Augen übergehen, so wie dem Referenten – ich habe sie dreimal angeschaut.
Denn tatsächlich, da sind sie, die stampfenden Bauern, in den Farben, wie sie nur Russland hervorbringen kann – man denke an die Zwiebeltürme der Basiliuskathedrale am Roten Platz – doch HALT! Darf man das jetzt überhaupt noch denken…
Die alte Zauberin gebückt, die Maiden mit schiefgelegten Köpfen, zinnsoldatengleich, immer mehr ekstatische Kreise, dann, mit weißem Gesicht und pocahontasgleichen Zöpfen, geschlagene acht Minuten regungslos, mit entgegengesetzten Füßen, den Blick starr ans Firmament geheftet, dann erwacht sie, die Todgeweihte, und tanzt, tanzt, die Beine nach hinten geworfen, einen halben Meter hoch! Ich sah Vladimir Malakhov am Stuttgarter Staatsballett in Begleitung des berühmten Photographenfreunds Dieter Blum – nun, der Russe schwebte in den Blitzen eines Stroboskobs im Spagat von links nach rechts über die Bühne – will heißen: Der Nijinsky unserer Zeit sprang in der Dunkelheit Millisekunden präzise auf 1 Meter, um im Lichtblitz zu schweben.
Und im nächsten Kapitel meines Manifests gegen die Cancel Culture, geht es, wir erinnern uns, zu Coco Chanel, Léon Bakst – und “L’Après-Midi d’un Faune”, dem ersten Bühnenorgasmus der Geschichte des modernen Theaters – in Delphi sah man sowas jeden Abend.
Harald Nicolas Stazol, 13. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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