Fotos © Ziyu Liu
Musikalisches Erinnern in Harbin: Zum 100. Geburtstag seines Vaters dirigiert Martin Fischer-Dieskau Wagner und Schumann – eine Hommage an Dietrich Fischer-Dieskau und Wilhelm Furtwängler
Richard Wagner
„Die Meistersinger von Nürnberg“
Vorspiel zum ersten Aufzug
Flieder-Monolog des Hans Sachs aus dem zweiten Aufzug
Wahn-Monolog des Hans Sachs aus dem dritten Aufzug
„Tannhäuser“
Szene des Wolfram aus dem dritten Aufzug – „Wie Todesahnung….“
„Lohengrin“
Vorspiel zum ersten Aufzug
Robert Schumann
Sinfonie Nr. 4 d-moll op. 120
Harbin Symphony Orchestra
Martin Fischer-Dieskau, musikalische Leitung
Hu Sihao, Bassbariton
Harbin Concert Hall, 9. Mai 2025
von Dirk Schauß
Am 9. Mai 2025 erlebte die Harbin Concert Hall ein Konzert von besonderer künstlerischer und symbolischer Dichte. Unter dem Titel „Melodies of the Masters: Tribute to Furtwängler II“, zugleich dem 100. Geburtstag Dietrich Fischer-Dieskaus gewidmet, brachte Martin Fischer-Dieskau, Sohn des großen Baritons, gemeinsam mit dem Harbin Symphony Orchestra und dem Bassbariton Hu Sihao ein Programm zur Aufführung, das weniger Repertoirepflege als vielmehr musikhistorische Spurensuche war: Wagner und Schumann im Zeichen Furtwänglers – interpretiert nicht als museale Huldigung, sondern als lebendige künstlerische Praxis.
Martin Fischer-Dieskau machte aus dem Abend mehr als ein reines Konzert. In seinem emphatischen Plädoyer für die Bedeutung des „Zuhörens“ im Konzert legte er sein künstlerisches Credo offen: Musik dürfe nicht visuell konsumiert, sondern müsse innerlich mitvollzogen werden. Dass er das gesamte Programm auswendig dirigierte – eine in China ungewöhnliche Praxis – verlieh der Aufführung eine besondere Unmittelbarkeit und Konzentration. Seine Gestik blieb dienend, nie theatralisch. Vielmehr entstand zwischen Dirigent, Orchester und Publikum ein intimer interpretatorischer Dialog, getragen von der Idee Furtwänglers, Musik nicht zu „zeigen“, sondern zu werden.

Im ersten Vorspiel zu „Die Meistersinger von Nürnberg“ offenbarte sich bereits die Essenz dieses Ansatzes: Flexibilität in der Tempogestaltung, feinsinnige Dynamikverläufe, eine geradezu undeutsch-transparente Klangarchitektur. Fischer-Dieskau hatte das Orchester mit akribisch edierten Materialien vorbereitet, eigene Bogenstriche ausprobiert und mit seiner Ehefrau, die Cellistin ist, auch die tiefen Streicherpartien überarbeitet. Das Ergebnis: eine durchhörbare, atmende Interpretation, die durchaus an Furtwänglers legendäre Bayreuther Aufführung von 1943 erinnerte.
Mit der Wahl zweier Monologe aus den „Meistersingern“ – „Wie duftet doch der Flieder“ und „Wahn! Wahn! Überall Wahn!“ – wagte sich der junge chinesische Bassbariton Hu Sihao an eine der bedeutendsten Baritonfiguren des Repertoires. Es war sein Debüt als Wagnersänger – und was für eines. Mit souveräner Bühnenpräsenz, nuancenreicher Musikalität und bestechender deutscher Diktion verlieh Hu der Figur des Hans Sachs nicht nur stimmliche Wucht, sondern psychologische Tiefe. Der Fliedermonolog geriet zu einer kammermusikalischen Meditation, der Wahnmonolog hingegen zum inneren Drama zwischen Zorn, Einsicht und milder Resignation. Fischer-Dieskaus sensibles Dirigat ließ Hu dabei allen gestalterischen Raum.
Die folgende Arie des Wolfram aus dem „Tannhäuser“ markierte einen ästhetischen Kontrast. Hier bewies Hu Sihao seine Wandelbarkeit. Mit lyrischem Fluss und feiner Tongebung verschmolz er mit der kantablen Cellostimme – ein Moment stiller Verzauberung. Sein Bühnenabgang im sanften Diminuendo des Orchesters war ein beinahe szenischer Akt – kontemplativ und ganz dem romantischen Geist verpflichtet.
Mit Wagners erstem „Lohengrin“-Vorspiel gab es dann eine reine Klangvision. Fischer-Dieskau forderte von seinem Orchester Furtwänglers Methode des „inneren Zählens“ – eine fast meditative Technik, in der jede Viertelnote in vier Sechzehntel unterteilt gedacht wird. Was theoretisch akademisch klingt, entfaltete in der Aufführung eine betörende Wirkung: Der Klang hob ab wie auf unsichtbaren Flügeln, entwickelte strahlende Leuchtkraft im Blech und verschwand wieder in ätherischer Transparenz – ein Musterbeispiel wagnerischer „Musik als Traum“.

In der zweiten Konzerthälfte erklang Schumanns vierte Symphonie in d-Moll – ein Werk, das Furtwängler als große „Phantasie in vier Sätzen“ verstand. Auch hier trat Fischer-Dieskau nicht als Nachahmer auf, sondern als forschender Interpret: In eingehenden Studien hatte er historische Aufnahmen und Partiturmaterialien Furtwänglers verglichen und Konsequenzen für Phrasierung, Orchestrierung und Temporelationen gezogen. Besonders auffällig war im ersten Satz die Reduktion der Holzbläserdichte zugunsten größerer Klarheit – ein Eingriff mit Wirkung. Die Orchesterfarben leuchteten plastisch, die Struktur blieb auch in langsamen Tempi durchhörbar.

Das Harbin Symphony Orchestra – in einer jungen, sich entwickelnden Musiktradition stehend – zeigte an diesem Abend, wie sehr es durch eine inspirierte künstlerische Leitung über sich hinauswachsen kann. Konkretes Beispiel: Konzertmeister Shuai Lin gestaltete das lyrische Violinsolo im zweiten Satz mit Ausdruck und Leuchtkraft. Auch im Scherzo gelangen Fischer-Dieskau formbewusste Bögen, während die Posaunengruppe – ganz im Sinne Furtwänglers – mit Signalmotiven klangliche Mahnzeichen setzte. Die codaartige Beschleunigung im Finalsatz wurde so nicht nur zum musikalischen Kulminationspunkt, sondern zu einer Hommage an die Ethik einer vergangenen, fast verlorenen Interpretationskunst.
Was an diesem Abend in Harbin geschah, war keine museale Nachstellung historischer Aufführungstraditionen, sondern ein lebendiger, intimer Dialog mit der Vergangenheit – vermittelt durch eine künstlerische Persönlichkeit, die ihr Erbe kennt, es durchdrungen hat und es in Gegenwart zu übersetzen weiß. Martin Fischer-Dieskau erwies sich nicht nur als kundiger Furtwängler-Kenner, sondern als Dirigent mit deutlich eigener Handschrift. Hu Sihao überzeugte als stimmgewaltiger, dabei tief musikalischer Solist. Und das Harbin Symphony Orchestra – durchdrungen von der Ernsthaftigkeit dieses Projekts – ließ erkennen, welches Potential in ihm schlummert. In einer Zeit des raschen Konsums und der austauschbaren Events setzte dieser Abend ein Zeichen: Musik darf – und muss – wieder existenziell gemeint sein.
Dirk Schauß, 28. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Martin Fischer-Dieskau, Dirigentenexpertise in der Abwärtsspirale (3) klassik-begeistert.de