von Barbara Hauter
Haben Sie Lust auf eine kleine Verschnaufpause vom Thema Corona? Prima. Ich auch. Beim täglichen „Raus-aus-der-Isolations-Spaziergang“ plauderte ich fröhlich mit der besten Lebensgefährtin von allen über unsere Kindheit. Sie ist Trompeterin und ist – damals noch auf dem Akkordeon –schon früh von ihren Eltern in den regelmäßigen Genuss von Übungstonleitern getrieben worden. Eine frühkindliche Erfahrung, die mir völlig fehlt. Pflichtbewusst haben mich meine Eltern zwar für den Blockflötenunterricht angemeldet. Meine über alles geliebte Mutter konnte aber das Übegeräusch nicht ertragen. Die zugegebenermaßen wirklich quietschenden ersten musikalischen Gehversuche endeten damit, dass ich statt Flöten- Ballettunterricht bekam. Das war deutlich geräuschloser.
Meine Mutter mochte Ruhe, das Radio blieb während der Woche aus. Ganz anders, wenn Vater präsent war. Das Ritual am Sonntag gegen 10 war: Spiegelei und AFN. American Forces Network. (Wer das noch kennt: herzlichen Glückwunsch, wir sind immer noch am Leben! Wem das nichts sagt: es gab mal amerikanische Truppen in Deutschland, die auch einen eigenen Radiosender betrieben.) Mein Vater liebte die Jazzklänge des amerikanischen Senders. Wobei das bei ihm vor allem – und eigentlich ausschließlich – bedeutete, Benny Goodman zu lauschen. Dessen Erkennungsmelodie ist für mich mit dem Geruch von frischem Brot und Speck verbunden. Ich habe da einen Pawlowschen Reflex entwickelt: mein Vater schnippte fröhlich die Swingrhythmen mit, meine Speicheldrüsen gingen in Produktion. Das ist bis heute so.
Das also war meine musikalische Vorerfahrung, als ich mit etwa zwölf begann, die Welt für mich selbst zu erobern. Es muss Weihnachten 1976 gewesen sein. Meine Eltern schmückten den Baum mit Lametta und mir war langweilig. Schräg gegenüber leuchtete die St. Monika-Kirche in Ruit, damals ein Kuhdorf bei Stuttgart. Eigentlich eine schmucklose katholische Flüchtlingskirche im protestantischen Schwaben. Mir erschien sie als verlockende kleine und noch dazu weihnachtlich abgesegnete Fluchtmöglichkeit. Ich setzte mich von der Familie ab und in den Gottesdienst. Der Kirchraum war nur mit Kerzen erhellt. Kerzenschein findet man mit zwölf einfach romantisch, ich genoss es aus dem nervigen Familienleben ausgebrochen zu sein.
Da setzte Musik ein. Musik, wie ich sie noch nie gehört hatte. Eine Flöte erhob sich aus dem schummrigen Dunkel mühelos singend wie ein Vogel in die Luft und mein Herz folgte ihr. Eine Geige eiferte ihr hinterher, und mit ihr flogen alle meine Gefühle in den Orbit. Die Orgel setzte mit ein und wob ein warmes Wohlgefühl um mich. Mein ganzer Körper wurde von einem wogenden Glücksstrom erfasst. So etwas hatte ich noch nie gehört, noch nie erlebt. Es war als hätte sich mir die ganze Schönheit des Universums auf einmal offenbart, in reinster Klarheit und schöpferischer Harmonie.
Vom Rest des Gottesdienstes nahm ich nichts mehr wahr. Ich war wie betäubt. Ich wollte nur noch einen Blick erhaschen auf Menschen, die offensichtlich in der Lage waren, die Tür in eine andere, mir völlig unbekannte Welt aufzustoßen. Doch die Treppe von der Empore herunter kamen die Musiker, ganz normale Menschen. Ich hatte Götter erwartet.
Zurück in der Familienweihnacht versuchte ich, von meinem Erlebnis zu erzählen, aber das allgemeine Geschenkeauspacken war so rummelig, dass meine Geschichte unterging. Doch am ersten Weihnachtsfeiertag ging meine Mutter mit mir hinüber zur St. Monika-Kirche und wir lasen auf einem kleinen handgeschriebenen Zettel: Programm Heilig Abend – Bach, 4. Brandenburgisches Konzert. Kaum waren die Geschäfte wieder offen, bekam ich von meinen Eltern eine Langspielplatte mit dem Bachschen Meisterwerk geschenkt. Meine Mutter war erst ganz gerührt, hat es dann aber schnell bereut. Früher hatte man in der Familie ja nur einen Plattenspieler, im Wohnzimmer natürlich, und ich ließ Bach rund um die Uhr kreisen. Seltsamerweise kamen meine Eltern nicht auf die Idee, mir zu sagen, dass es außer den Brandenburgischen Konzerten weitere Musik gibt, die die Herzen öffnet. Dazu brauchte es dann Herrn Keuchel, Musiklehrer am Otto-Hahn-Gymnasium. Der bewarf uns immer mit einem Schlüsselbund, wenn wir falsch sangen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Barbara Hauter, 3. April 2020, für
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