MKU, Blomstedt © Dr. Regina Ströbl
Musik- und Kongresshalle Lübeck, 9. Juni 2023
Johannes Brahms, Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 77
Carl Nielsen, Symphonie Nr. 5 op. 50
Herbert Blomstedt, Dirigent
Leonidas Kavakos, Violine
NDR Elbphilharmonie Orchester
von Dr. Andreas Ströbl
Eine Frage vorweg: Warum war an einem solchen Konzertabend ein weit über die Region bekanntes Haus wie die Lübecker Musik- und Kongresshalle nicht komplett ausverkauft? Abgesehen vom schönen Sommerwetter (das hat man seit Wochen ohnehin täglich), gab es keinen Grund, diese Sternstunde nicht mitzuerleben: Herbert Blomstedt als „Legende“ zu bezeichnen, ist etwas abgedroschen (zumindest ist er keine Musiker:in, wie neulich in Hamburg zu lesen war), aber irgendwie muss man diesen Grandseigneur des Dirigats ja verbal würdigen.
Menschenfreundlichkeit und der Anspruch, jegliche Eitelkeit von vornherein auszublenden, um der vollendeten Darbietung von Musik zu dienen – diese Eigenschaften beweist Blomstedt bei jedem Auftritt und man darf ihn in zweifacher Hinsicht einen Jahrhundert-Dirigenten nennen. Seit 1954 steht er auf den Podien der großen Häuser der ganzen Welt und mit fast 96 Jahren meißelt er als ältester im besten Sinne dienstleistender Dirigent sein eigenes Monument in die Musikgeschichte. Nach einem Sturz im vergangenen Jahr klappt das mit dem Stehen allerdings nicht mehr für die Dauer eines langen Konzerts und so leitet er die Orchester seit einiger Zeit sitzend.
So geschah es auch am denkwürdigen 9. Juni in Lübeck und bereits aus dem Begrüßungsbeifall klang deutlich die Würdigung dieses großen Mannes und dessen, was er in seinem langen Leben geleistet hat, heraus. In seiner charakteristischen Manier schritt er gleich zur Tat – dieser Dirigent muss sich nicht im Applaus sonnen, sondern bildete auch bei diesem Konzert mit Solist und Orchester eine vollendete Einheit.
Den ersten Teil bildete Brahms’ Violinkonzert, das man nun schon sehr oft gehört hat, aber Joseph Joachim wäre mehr als einverstanden mit der Interpretation von Leonidas Kavakos gewesen. Sein Strich ist sanft gleitend und in den zarten Passagen samtig, ja fließend; in der Malerei würde man von „sfumato“ sprechen. Aber seine Glissandi sind angemessen eingesetzt, so dass die Töne nicht verwischen. Diametral entgegengesetzt sind die Einsätze in den leidenschaftlichen Passagen, die Kavakos energisch und zupackend gestaltet. Der Violinist verbiegt sich nicht oder fällt durch Selbstdarstellung auf, sondern spielt mit straffer Haltung absolut unprätentiös, oft dem Orchester und seinem großartigen Leiter zugewandt. Teilweise spielt er sogar die Orchesterpassagen mit und verschmilzt so mit dem Klangkörper zu einer harmonischen Einheit.
Blomstedt formt, streichelt und modelliert mit seinen eleganten Händen die Klänge, sein Gesichtsausdruck ist heiter bis ernst-konzentriert. Die Interaktion zwischen allen Mitwirkenden ist von einer freundschaftlichen Zugewandtheit geprägt; es ist offensichtlich, dass alle es als Ehre empfinden, unter, nein, mit Blomstedt musizieren zu dürfen.
Der zweite Satz gehört sicher zum Anmutigsten, was Brahms je geschrieben hat und Kavakos gibt ihm ein entsprechend liebevolles, heimeliges Gepräge. Das ist norddeutsch klarer Brahms ohne jedes Abrutschen in kitschige Sentimentalität, die Vibrati setzt Kavakos diskret ein. Das ganze Orchester spielt fabelhaft; einen der schönsten Momente formt die Oboe, die das Geigenthema aufnimmt und es lerchengleich in die Höhe fliegen lässt.
Die Kadenz im dritten Satz (selbstverständlich auch die im ersten) meistert Kavakos brillant, diese Musik entströmt seiner Stradivari wie flüssiges Silber, das Finale blüht golden auf. Eine freundschaftliche Umarmung von Dirigent und Solist unterstreicht das innige Miteinander im Dienst der Kunst.
Der begeisterte Applaus wird mit einer ganz besonderen Zugabe beantwortet. Das Konzert ist die letzte Veranstaltung von Roland Greutter als Konzertmeister in Lübeck und so schenken er und Kavakos dem Publikum zwei Duette von Béla Bartók. Mit großer Spielfreude und Selbstironie wetteifern die beiden spaßhaft um die größte Virtuosität und beide nehmen sich nichts! Nach dem ersten Stück mit der für Bartók typischen spröden Schroffheit erklingt das zweite volkstümlich und zitiert die Spielweise der ungarischen Dorffiedler, die das Schaffen des Komponisten so geprägt haben. Erneut langanhaltender, begeisterter Beifall!
Carl Nielsens 5. Symphonie, die nach der Pause erklingt, ist ein eigentümliches, zu Beginn nicht ganz einfach zugängliches Werk. Diese Musik hat etwas Suchendes, Tastendes, Nachdenkliches, sie spielt mit einer gewissen Unentschlossenheit und scheint darauf zu lauern, die Hemmungen zu überwinden. Mit dem Einsatz des Schlagwerkes nimmt der erste der beiden Sätze plötzlich Fahrt auf, die Trommel klingt militärisch-drohend, die Pauke verstärkt die Stimmung. Rhythmen überlagern sich und das Orchester schlägt einen dramatischeren Ton an. Dänisch wirkt diese Musik nicht, passagenweise eher osteuropäisch, ja exotisch, als suche sie ihre Herkunft und auch ihr Ziel.
Tambourin und Triangel setzen zusätzliche Akzente; oft wirkt es, als fochten Streicher und Schlagwerk, dann auch die Blechbläser einen Konflikt miteinander aus. Man könnte beim Spiel mit den Rhythmen an eine Nähe zu Strawinsky denken, Fugato-Stellen der Streicher mögen an Mahler erinnern, Dur-Moll- und Tonartwechsel an Strauss, die spätromantische Melancholie an Franz Schmidt. Eine existentielle Grundstimmung ließe sich mit der Schwere bei Schostakowitsch vergleichen, aber letztlich steht Nielsens Tonsprache eigenständig und singulär da. Sie ist fordernd, unbequem, dann wieder optimistisch und erreicht dadurch eine unwiderstehliche Sogwirkung.
Umso erhabener wirkt die Auflösung der Spannung zum Ende des Satzes, eine sanfte Melodik schwebt über dem trüben Dunst und stillt die Sehnsucht nach Helligkeit.
Mit jäher Dynamik beginnt der zweite Satz, auf die nervöse Bewegung der Streicher antworten die Blechbläser wie mit einem wiederholten Aufschrei. Holzbläser übernehmen fugenartig ein Thema der Violinen und setzen die Spannung fort. Erinnerungen an den Beginn des ersten Satzes schließen zwar formal einen Kreis, aber die der Musik innewohnende Suche nach Erlösung wird dadurch noch stärker. Wie die Fragen einer gequälten Seele gerät der Duktus in immer neue Richtungen, überraschende Wendungen verstärken die Getriebenheit. Aufgetürmte Wolken scheinen eine Gewitterkatastrophe vorzubereiten, aber in den letzten Takten des Satzes bricht die Düsternis mit einem Male auf und entlässt die Zuhörerschaft völlig unvermittelt ins Licht.
Man möchte mehr von diesem Komponisten hören und mit großem Bedauern mag man sich an das Jahr 2020 erinnern, als das Schleswig-Holstein-Musikfestival Carl Nielsens Werk ins Zentrum gerückt hatte und die allermeisten Konzerte wegen der Corona-Einschränkungen ausfielen. Das hätte das Nielsen-Jahr in Norddeutschland werden sollen und man kann nur hoffen, dass dieses bejubelte Konzert in Lübeck nun ein Zündfunken für eine weitergehende Würdigung des Dänen sein mag.
Fast alle im Publikum standen beim Schlussapplaus und die Bravo-Rufe wollten kaum enden. Beseelt und dankbar entströmten die Lübecker und sprachlich erkennbar zahlreiche Dänen dem Saal und die, die da waren, dürfen sich glücklich schätzen, diese Sternstunde miterlebt zu haben.
Dr. Andreas Ströbl, 10. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at