Foto: François-Xavier Roth ©DR
Kölner Philharmonie, 17. Januar 2022
Jean-Philippe Rameau – Suite aus Les Indes galantes, 1735
Vito Žuraj – Unveiled – Konzert für Violoncello und Orchester, 2020/2021
Richard Strauss – Don Quixote – Fantastische Variationen über ein Thema ritterlichen Charakters op. 35, 1897
Gürzenich Orchester Köln
François-Xavier Roth, Dirigent
Jean-Guihen Queyras, Violoncello
Öykü Canpolat, Viola
Von Daniel Janz
Mut und Experimente in Verbindung mit Tradition – so lässt sich der Ansatz zusammenfassen, den das Gürzenich Orchester Köln unter seinem Chefdirigenten François-Xavier Roth (50) seit 2018 fährt. Nicht nur begegnet den Zuhörern unter seiner Führung Altes wie Neues gleichermaßen. Er versteht es auch, diese Ansätze in einen Zusammenhang zu stellen. Nicht immer überzeugen diese, wenn es aber gelingt, stellt das eine umso spannendere Mischung dar.
Mit dem Einstieg setzt das Gürzenich Orchester Köln heute jedenfalls ein Zeichen. Sein französischer Dirigent hat sich dabei auf die eigene Landesliteratur zurückbezogen und den Komponisten und Cembalovirtuosen Rameau bedient. Die aus seiner Ballettoper Les Indes galantes stammende Suite ergreift bereits zu Beginn durch ihren tänzerischen Rhythmus. Unter Roths Dirigat kitzeln die – allesamt stehenden – Musiker zur Begleitung auf Cembalo und einer Laute, die abwechselnd auch Gitarre spielt, einen Ohrwurm nach dem anderen aus ihren Instrumenten.
In dieser in insgesamt 6 Sätzen aufgeteilten Suite zeigt sich die ganze Bandbreite von Barockmusik. Rameaus Orchestrationskunst ging über die von vielen seiner Zeitgenossen jedoch noch hinaus, was man daran merkt, dass seine Suite nicht nur einen Streichersatz begleitet von Bläsern darstellt, sondern auch ausgeklügelte Solos (Satz 2) und abgespeckte Passagen beinhaltet. Trotz der – im Vergleich zu späteren Komponisten der Romantik – harmonisch weniger atemberaubenden Wendungen erzeugt diese Musik genug Abwechslung, um nicht zu langweilen.
Dazu kommt die wirklich herausragende Vortragsweise des Gürzenich Orchesters Köln unter seinem Chefdirigenten. François-Xavier Roth zeigt hier nicht nur ein Gefühl fürs Detail. Ganzen Körpereinsatz beweist er, als er zum dritten Satz selbst zu einer flachen Trommel greift und den Takt in bester Schlagzeugermanier angibt. Das ohnehin schon bewegende Spiel von Streichern, Flöten, Oboen, Fagotten und im letzten Satz klar schmetternden Trompeten und Pauken unterstreicht er so noch und lässt diesen Komponisten als einen derjenigen stehen, die gerne häufiger in unsere Konzertsäle zurückfinden dürfen. Es macht großen Spaß, hier zuzusehen und zuzuhören.
Im krassen Kontrast zu Rameau steht das zweite Werk des Abends. Die Komposition von Vito Žuraj (42) mit Uraufführung in diesem Konzert, legt den Fokus fast ausschließlich auf’s Geräuschhafte. In einer für Musiker und Publikum extrem fordernden Komposition kitzelt der in Maribor geborene Tonkünstler Klänge aus dem Orchester, die selbst den so malerischen Richard Strauss in den Schatten stellen.
Es ist schade, dass er diese Klänge nicht auch durch wiedererkennbare melodische Strukturen miteinander verbindet. Das böte sich insbesondere für Jean-Guihen Queyras (54) am Solocello an, für den dieses Stück geschrieben wurde. Stattdessen wird den gebürtigen Kanadier ein wildes Spiel vorgeschrieben – mal knarzt es, mal kratzt er mit Bleistiften über sein Cello, mal kracht und dröhnt es, als würde er sein Instrument zerlegen. Es gibt für ihn zwar auch tonal höchst filigrane Stellen zu meistern. Leider aber wird er dabei zu oft durch das mächtige Orchesterbrimborium zugedeckt. Das ist – gerade für ein Cellokonzert – dem Solisten gegenüber undankbar.
Problematisch ist auch, dass diese Komposition schnell in Reizüberflutung ausufert. Es ist eine Sache, sich mehr auf Klänge als Melodien in Musik zu stützen und oft genug geht dieser Ansatz furchtbar schief. Aber wo dieses Gemisch auch noch die Sinne überflutet und einem Zuhörenden dadurch die Orientierung nimmt, überwiegt irgendwann der Verdruss. Aus einer kritischen Position könnte man sogar das Wort „Effekthascherei“ anbringen. Eine Geräuschkulisse wie diese erlebt man nämlich fast genauso auch auf einer Großbaustelle. Wozu braucht es da den Konzertsaal?
Dankenswerterweise war der Komponist zu dieser Uraufführung anwesend und bereit, klassik-begeistert ein paar Fragen zu beantworten. So klärte er beispielsweise über den starken autobiografischen Hintergrund inklusive musikalischen Selbstbezügen auf. Žuraj wollte hier zwei Dinge miteinander verbinden: Einerseits eine gewisse Selbsttherapie über eine unglückliche Liebe, die ihn innerlich so zerrissen hat, dass er (Zitat) „gar keine Musik mehr in sich spürte“. Und andererseits die Herausforderung, mit diesem einschneidenden Erlebnis im coronabedingten Lockdown in Bamberg (der, wie er sagt „Stadt der Glocken“) fertig werden zu müssen – weshalb er in diesem Werk auch immer wieder Glocken zum Klingen bringt.
Diesen zerrissenen Charakter merkt man der Komposition – die besonders für Schlagzeug und Solocello einen Extremsport darstellt – auch an. Sie baut sich langsam über erste Geräusche auf und steigert sich dann in ein regelrechtes Furiosum. Nahezu alle Instrumente werden auf bloße Geräuschhaftigkeit reduziert – besonders prominent die Blechbläser, die in Instrumente oder lose Mundstücke blasen, ohne dabei Töne zu erzeugen oder auf eine Art trötendes Plappern reduziert werden. Dazu immer wieder Einwürfe einer nach Karibik klingenden Gitarre, die auf brodelndem Schlagzeuguntergrund die Assoziation eines Strandspaziergangs erzeugt. Ist das möglicherweise die Sehnsucht nach den – durch Corona verbauten – Urlaub?
Man kann diesem Werk eine gewisse Ausdrucksstärke nicht absprechen. Für einen klareren Eindruck hätte eine Kürzung um mindestens 10 Minuten jedoch geholfen – in diesen gefühlt sehr langen 25 Minuten Klanggemisch stellt sich auf Dauer eine Gewöhnung ein, die neben Verdruss schnell auch in Langeweile umschlagen kann. Der Rezensent hätte aus diesem Grund nach 2 Minuten bereits am liebsten den Saal verlassen – Glockengeläut und „Hawaiispiel“ der Gitarre zur zweiten Hälfte konnten ihn durch die vorherige Klangüberreizung gar nicht mehr bewegen.
Dass dieses Werk das Publikum spaltet, zeigen auch Reaktionen von Zuschauern, die sich während der Aufführung die Ohren zuhalten oder beim Abschlussapplaus stoisch die Arme verschränken. Der Rezensent gewann jedenfalls den Eindruck, dass ihn diese Geräuschkomposition nicht als einzigen ratlos zurücklässt. Dem gegenüber stehen aber auch begeisterte Konzertbesucher, die dem Komponisten in der Pause teilweise persönlich danken. Es scheint stark geschmacksabhängig zu sein, ob man dieser Kompositionsweise etwas abgewinnen kann, oder nicht.
Mit „Don Quixote“ von Richard Strauss steht als Abschlusswerk des Abends eine Komposition auf dem Programm, die bereits ähnliche Diskussionen hinter sich hatte. Auch Straussens Variationszyklus in Form eines Cellokonzerts galt damals zu ihrer Entstehungszeit den Kritikern als zu geräuschhaft und ästhetisch unanständig. Und trotzdem hat diese sich inzwischen über 100 Jahre im Konzertbetrieb gehalten – auch mit damaliger Uraufführung beim Gürzenich Orchester Köln.
In den Variationen über ein „Thema ritterlichen Charakters“ stellt Strauss seine ganz eigene mal von Humor, mal von Tragik getragene Version des „Ritters von trauriger Gestalt“ dar. Jeder Musikabschnitt steht für eine Szene, die auf Cervantes Original-Roman (1605 & 1615) beruhen. Für weitere Klarheit in dieser sehr bildlichen Komposition ordnete der Komponist den Figuren auch feste Instrumente zu: Don Quixote das Solocello und seinem Bauernknappen Sancho Panza die Bratsche beziehungsweise die Bassklarinette in Kombination mit der Tenortuba.
So begegnet uns auf der Bühne – der nun in Köln residierende – Jean-Guihen Queyras wieder. Dass er sich an einem Abend gleich für zwei so anspruchsvolle Stücke engagieren lässt, spricht für ihn und seine Belastbarkeit. Weiterhin erhält er Unterstützung an der ersten Bratsche von der in Izmir geborenen Öykü Canpolat (28), die vor allem in den Dialogen zwischen Don Quixote und Sancho Panza brilliert. Und auch Queyras kann nun zeigen, dass er aus seinem Instrument nicht nur Geräusche kratzen, sondern auch kunstvolle Töne herausholen kann. Wer bei seinem Auftritt zum vorherigen Werk fragend zurück blieb, der wurde hier vollends entschädigt.
Dazu bereitet das Gürzenich Orchester den beiden einen mal vollen, mal kammermusikalischen Untergrund szenischen Charakters. François-Xavier Roth zeigt hier, dass er und seine Musiker – trotz kleiner Ungenauigkeiten in der zweiten Hälfte und einem ab und an etwas schnellen Tempo – auch das Ohr ansprechende Klangkunst beherrschen. Ob bei Don Quixotes Ritt gegen die Windmühlen, seinen Dreschereien mit der Schafsherde, einem Monolog über wahre Ritterlichkeit, seiner Begegnung mit der plump vor sich hintapsenden Dulzinea oder dem Duell mit einem Bauern, in dem er seine schmerzlichste Niederlage einstecken und sein Rittertum aufgeben muss – über weite Strecken überzeugt diese Aufführung. Herausragend dabei vor allem das Schlagzeug, die Trompeten, Posaunen und auch die Streicher.
Es ist damit in Summe ein über weite Strecken bewegender und abschließend auch zufriedenstellender Abend, der für jeden etwas zu bieten hat. Dass die Aufführung Lust auf mehr macht, zeigt auch der abschließende Applaus im – coronabedingt – nur halb vollen Saal. Besonders gefeiert werden dabei Jean-Guihen Queyras und Öykü Canpolat. Ihre Leistungen waren definitiv unter den besten an diesem Abend.
Daniel Janz, 18. Januar 2022, für
klassik-begeistert.de und Klassik-begeistert.at
WDR Sinfonieorchester, Christian Măcelaru Kölner Philharmonie, 30. Oktober 2021
Daniels Anti-Klassiker 40: Richard Strauss – Sinfonia domestica (1904) klassik-begeistert.de