Neumeiers Choreographie ist individualistisch und damit urdemokratisch

John Neumeiers Ballett Romeo und Julia, Teil III  Hamburgische Staatsoper, 17. Mai 2025

Auftritt des Herzogs von Verona © Kiran West

John Neumeiers Ballett Romeo und Julia hat nichts von seiner Zeitlosigkeit verloren. Teil III 

Neumeiers Werke sind zeitlos modern. Denn die Liebe und das Leid, aber auch gesellschaftliche Zwänge sind zeitlos, wie bei Romeo und Julia. Ob das Werk in der Renaissance oder modernistisch in der Jetztzeit angesiedelt ist, moderne Kostüme getragen werden oder eine in die Subkultur verlegte Handlung auf die Bühne gehoben wird, ändert nichts daran, dass zu jeder Zeit geliebt und gelitten wird.

von Dr. Ralf Wegner

Neumeiers Rollenverzeichnis für Romeo und Julia weist 56 auftretende Tänzerinnen und Tänzer auf, dazu kommen noch zahlreiche namentlich nicht benannte Statisten wie Lakaien, Wächter, Markthändler, Blumenmädchen, Senatoren und Bürger von Verona. In Neumeiers Inszenierung ist so viel auf der Bühne zu sehen, dass auch bei der x-ten Aufführung seines Werkes immer noch Neues bemerkbar wird. Kein Schritt, kein Sprung und keine Drehung ist bei Neumeier ohne Sinn. Und er ist ein Meister nicht nur in der Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern auch in der Handhabung von Massenszenen.



Auch Neumeiers Massenszenen sind individualistisch choreographiert

Es ist schon erstaunlich, dass sich die zahlreichen Tänzerinnen und Tänzer sowie die Statisten nicht über den Haufen rennen, sondern stets genau wissen, wie sie dem Gewusel entfliehen können. Es ist ja nicht so, dass in Inszenierungen anderer Choreographen nicht auch an die 60 wenn nicht mehr Personen die Bühne bevölkern, aber meist sind sie statisch gruppiert, um ja nicht die zentrale Szene zu stören. Bei Neumeier läuft alles dynamisch ab, vorn die Hauptszene, etwa die Degenfechtereien Mercutios oder Romeos mit Tybalt, im Hintergrund die darauf ganz unterschiedlich reagierenden Freunde, Schauspieler oder Gegner der verfeindeten Häuser.

Eines der von Jürgen Roses großartig empfundenen Bühnenbilder: Romeo und Bruder Lorenzo vor der Kirche © Kiran West

Nach dem Tod Tybalts reagieren alle unterschiedlich, man zieht die Kinder vom Geschehen weg, andere trauern, viele laufen weg, um nicht mit dem Geschehen in Verbindung gebracht zu werden, Romeo wirft sich der herbeieilenden Gräfin Capulet zu Füßen und die Schauspieltruppe zieht schließlich Romeo eine Maske über und verlässt eilig die Stätte.

Für jeden Tänzer und jede Tänzerin entwickelt Neumeier ein eigenes individuelles, unverwechselbares Profil, so dass es ihnen auch leichter fällt, sich in dem offensichtlichen Bühnenchaos zurecht zu finden.

Es ist ein inszeniertes Chaos, in dem jeder Beteiligte als Individuum gesehen wird und seine ihm übertragene Rolle nach seinen persönlichen Fähigkeiten ausgestalten kann. Das betrifft technische Aspekte wie Sprünge und Drehungen ebenso wie die Darstellungskunst.

Deshalb ergibt sich oft auch kein militärisch synchrones Bild, wenn eine Tänzergruppe Gleiches aufführt. Das mag man gelegentlich bemängeln, ist aber der von Neumeier gewollten individuell interpretierbaren Rollengestaltung geschuldet. Das gilt natürlich nicht für jedes Ballett. In den Klassikern Schwanensee oder Giselle treten die Schwanengruppen oder die Wilis natürlich auch diszipliniert gleichförmig auf. Der Hintergrund ist aber ein anderer. Sowohl die Schwäne als auch die Wilis sind entindividualisiert, sie sind gefangen in der Gleichförmigkeit der Bewegung. Sie waren einst menschlicher Natur, leben aber jetzt in einer anderen, weniger demokratisch organisierten Welt.

John Neumeiers demokratische Sicht auf das Ballett

Neumeiers Sicht auf den Tanz und sein narratives Vorgehen ist daher höchst demokratisch und unterscheidet sich von dem russischen Stil, bei dem artistische Perfektion und unbedingte Gleichheit im Gruppentanz ganz im Vordergrund stehen, nicht dagegen der individuelle Ausdruck. Und John Neumeier lässt sich nicht tagespolitisch vereinnahmen, seine Ballette ehren das Individium und die Liebe zwischen den Menschen. Und John Neumeier ist in seinen Inszenierungen immer gegen den Krieg, wo er auch stattfindet. Er schildert das Leid, welches der Krieg über die Menschen bringt, nicht plakativ voyeuristisch, sondern anhand von Inneren Vorgängen wie in seinem meisterlichen Ballett Nijinsky.

Bruder Lorenzo stellt sich Tybalts Degen entgegen © Kiran West

Deshalb sind Neumeiers Werke zeitlos modern. Denn die Liebe und das Leid, aber auch gesellschaftliche Zwänge sind zeitlos, wie bei Romeo und Julia. Ob das Werk in der Renaissance oder modernistisch in der Jetztzeit angesiedelt ist, moderne Kostüme getragen werden oder eine in die Subkultur verlegte Handlung auf die Bühne gehoben wird, ändert nichts daran, dass zu jeder Zeit geliebt und gelitten wird.

Und Shakespeare hat seine Handlung im Verona der Renaissancezeit angesiedelt. Also warum den nachfolgenden Generationen nicht das Original zeigen? Zumal es hier seit mehr als 50 Jahren funktioniert. Neumeiers Romeo und Julia-Choreographie füllt immer noch das Haus, nunmehr mit der 197. Vorstellung, allein auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper.

Man kann das Tor zum Neumeier-Ballettparadies öffnen, sollte es aber nicht verlassen

Deshalb ist auch zu fragen, was frischer Wind oder ein Aufbruch zu neuen Ufern bei der Neumeier-Nachfolgefrage bringen soll. Ich wage einen Vergleich: Adam und Eva lebten im Paradies, sie wollten anderes sehen und erleben, endeten aber in Kummer und Leid.

Die Choreographien John Neumeiers sind unser Ballett-Paradies, unser Garten Eden. Es gibt um diesen Garten herum natürlich noch andere mehr oder weniger schöne Gärten, aber deswegen das Paradies verlassen? Wozu? Um nichtssagende Mehrteiler auf der Bühne zu sehen wie u.a. Azure Bartons Slow Burn? Sollen das die neuen Ufer sein? Ich jedenfalls würde nicht mit auf das dahin gelotste Schiff steigen wollen.

Das heißt nicht, den Garten Eden verschlossen zu halten. Andere Flora bzw. Fauna kann durchaus bereichernd sein, es müssen ja nur nicht der Riesenbärenklau, der Schiffsbohrwurm oder zerstörerische Termiten sein.

John Neumeiers Ballett Romeo und Julia wird es wohl nach dieser Serie auf der Hamburger Opernbühne nicht mehr geben. Demis Volpi hat es, zumindest für die nächste Saison, vom Ballettplan gestrichen. Er hat sich die beiden vorgestellten Aufführungen offensichtlich auch nicht angesehen, während John Neumeier am Freitag wie gewohnt, unter spontanem Beifall des Publikums, seinen gewohnten Platz rechts in der 1. Parkettreihe aufsuchte und von dort die Vorstellung verfolgte. Leider ist es auch nicht abzusehen, ob das Traumpaar Azul Ardizzone und Louis Musin nach den in dieser Serie noch  am 20., 23. und 30. Mai vorgesehenen Aufführungen jemals wieder zusammen kommen wird.

Dr. Ralf Wegner, 20. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

John Neumeiers Ballett Romeo und Julia Teil I Hamburgische Staatsoper, 16. Mai 2025

 

Ein Gedanke zu „John Neumeiers Ballett Romeo und Julia, Teil III
Hamburgische Staatsoper, 17. Mai 2025“

  1. Welche Größe wohnt in der 17jährigen Azul Ardizzone, dass sie es geschafft hat, trotz all der Enttäuschungen – nein, dem Knockout – die Julia mit so viel Leben und Hingabe zu tanzen? Weil es jemanden gibt, der ihr Talent erkannt hat und ihren Weg mit Interesse weiter verfolgen und fördern will! Und weil sie ein großes Talent ist!
    Schon oft haben wir uns als Besucher gefragt, was sieht John Neumeier in dieser Tänzerin, in diesem Tänzer? Und dann wußten wir es, die Entwicklung in den Rollen, auf der Bühne… wie wurden wir immer wieder überrascht und mit grandiosen Darstellungen belohnt. Aus Rohdiamanten kamen die Juwelen heraus.
    Und jetzt fragen wir uns, was geschieht mit all diesen Juwelen??
    Sie werden vergeudet, fortgeworfen, ihnen wird ihre Nichtigkeit vor Augen geführt.
    Welche Anmaßung eines unsensiblen Menschen, der naiv vor ein Ballettwerkstattpublikum tritt, und die Worte der neuen Findung der Compagnie wiederholt… der aus dem DEMIAN zitiert „Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges…“ Ich ergänze noch: „Es ist so gut, das zu wissen: dass in uns drinnen einer ist, der alles weiß, alles will, alles besser macht als wir selber.“
    Vielleicht hätte er den Weg zu sich selber erst mal finden sollen, bevor er diese große Aufgabe übernimmt! Die Aufgabe, die nicht gelingt, wenn man Erste Solistinnen in Turnschuhe steckt, wenn einzig das Stück von Hans Manen ein Highlight war, das schaut man sich doch kein 2. Mal an. Und der neue Spielplan ist voll von den Abenden, wer geht denn dahin?
    Während man die Choreografien von John Neumeier immer wieder anschauen kann, gespannt ist auf andere Besetzungen, die Musikauswahl genießt und jedesmal mit dem Gefühl, ein Highlight erlebt zu haben, aus der Oper geht… bis zur nächsten Aufführung…
    Ja, wenn man Romeo und Julia in dieser Inszenierung sehen möchte, muss man wohl in die Welt hinaus, denn andere Compagnien werden stolz sein, das Stück zeigen zu dürfen und das Erbe Neumeiers zu bewahren.
    Dorothea Wendt, Lüneburg

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