So, dann verabschiede ich mich mal für ein Weilchen von der Elbphilharmonie. So sehr ich davon überzeugt bin, dass Klassikkonzerte nicht wesentlich zur Ausbreitung des Coronavirus beitragen, so sehr halte ich die neuesten Maßnahmen für absolut notwendig, eigentlich völlig unzureichend. Hoffentlich bis bald, liebe Elphi!
Foto: © Thies Rätzke
Elbphilharmonie Hamburg, 29. Oktober 2020
Julian Rachlin, Violine
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
Jérémie Rhorer, Dirigent
Pjotr Iljitsch Tschaikowski: Streicherserenade op. 48 und Violinkonzert op. 35
von Johannes Karl Fischer
Zwei der genialsten Werke Tschaikowskis an einem Abend. Noch ein Mal schöne Musik vor dem Lockdown. Und in neun Monaten dreimal dasselbe Stück hören; in welchem Konzertsaal ist das schon möglich?
Warum ich zum dritten Mal in neun Monaten die Streicherserenade op. 48 von Tschaikowski höre, habe ich in meinem Beitrag am 3. Oktober geschrieben. Es geht um eine abgesagte Konzertreise meines Studentenorchesters.
Haydn, Bach, jetzt Tschaikowski: Unterschiedlicher könnten die drei Rahmenprogramme kaum sein. Während die Streicherserenade bei den letzten zwei Konzerten im Mittelpunkt des Programms stand, fungierte sie hier mehr als Einleitung.
In meinem letzten Beitrag habe ich außerdem geschrieben, dass Tschaikowski für diese Serenade ein großzügig besetztes Orchester vorschwebte. Das Kammerorchester Wien-Berlin schien dies nicht zu beeindrucken. Ganz anders die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen; etwa 35 Streicher waren auf der Bühne. Bei den Bremern spielten also mehr Geigen als bei den Wien-Berlinern Streicher.
Diese Besetzungsunterschiede waren auch deutlich zu hören. Bei den Wien-Berlinern ähnelte der Klang eher einem Streichquartett als einem Symphonieorchester. Ganz anders die Bremer: Hier strömten die Töne auch in die hintersten Ecken der 16. Etage.
Diese Armada an Streichern spielte aber sanft wie Seide. Das Bild der schönen blauen Donau ging mir nicht aus dem Kopf. Grüne Felder und Linzer Niederösterreichisch. Das komplette Gegenteil der Wien-Berliner, das mit 16 Streichern so viel Kraft hatte wie ein ganzes Mahler-Orchester.
Genau diese Kraft fehlte den Bremern etwas. Sie haben sehr, sehr schön gespielt. Schon fast zu schön. Weit gestreckte Landschaften, von Kaliningrad bis Kamtschatka: So kennt man Tschaikowski aus seiner Ouvertüre 1812 oder der Einleitung seines 1. Klavierkonzerts. Davon war hier leider wenig zu hören.
Nach der Streicherserenade dann das Violinkonzert op. 35. Dieses Konzert hat es in sich: Der Geiger Leopold Auer, der für die Uraufführung vorgesehen war, weigerte sich, es in seiner Urfassung zu spielen. Er hielt es schlicht für unspielbar. Das Schicksal dieses Konzerts ähnelt jenem der Hammerklavier- und Kreutzer-Sonate. Damals „unspielbar,“ heute solistisches Standardrepertoire.
Trotzdem: Tschaikowskis Violinkonzert gehört immer noch zu den technisch schwierigsten Werken des Violinrepertoires. Besonders der dritte Satz, mit seinen zahlreichen Doppelgriffpassagen und una corda-Stellen, ist selbst für SpitzengeigerInnen eine Herausforderung.
Julian Rachlin hatte damit aber keinerlei Probleme. Und auch er pflegte einen sehr eleganten Stil. Wieder die Donau, und keine sibirische Steppe. Man kann das mögen oder auch nicht. Was man ihm und dem Orchester lassen muss: Sie waren sich in allen Interpretationsfragen sehr einig. Keine Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Solisten und dem Dirigenten. So gehört sich das. Der Solist gibt vor, der Dirigent folgt. Leider habe ich das auch schon ganz anders gehört.
Vielleicht war diese elegante Spielweise also gar nicht Rhorers Idee, sondern Rachlins. Dann wäre die Streicherserenade wahrhaftig die Einleitung zu diesem Violinkonzert. Nur: Der Solist hat zwar recht, wenn er spielt. Aber nicht, wenn er nicht spielt.
Insgesamt vom Niveau her vergleichbar mit der Nase in der Staatsoper. Gab eigentlich wenig zu meckern. Herausragend war es aber auch nicht.
Zuletzt das Tschaikowski Streicherserenaden-Ranking: Auf Platz 1 unangefochten das Kammerorchester Wien-Berlin. Platz 2 geht an die Metamorphosen Berlin, Platz 3 für die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen. Letztere bekommt Bonus-Punkte dafür, dass sie, entsprechend Tschaikowskis Vorstellungen, das größte Orchester hatte.
Am meisten Tschaikowski gespielt haben aber die Metamorphosen Berlin und das Kammerorchester Wien-Berlin. Letzteres noch etwas perfekter. Und nicht zu vergessen: Der Sonderpreis für die beste Aufnahme geht an Semjon Bytschkow und die Berliner Philharmoniker.
Ein Wort noch zur Akustik in der Elbphilharmonie: Ich habe diese in der Vergangenheit sehr oft kritisiert. Ich bin nicht der Einzige, der diese Meinung teilt. Auch nicht im Kreis derer, die dort schon gespielt haben. Heute, so wie vor vier Wochen, hat mich die Akustik aber positiv überrascht. Fazit: Es gibt Plätze ganz unten, da ist die Akustik wirklich nicht besonders. Es gibt Plätze ganz oben, da ist sie völlig in Ordnung.
So, dann verabschiede ich mich mal für ein Weilchen von der Elbphilharmonie. So sehr ich davon überzeugt bin, dass Klassikkonzerte nicht wesentlich zur Ausbreitung des Coronavirus beitragen, so sehr halte ich die neuesten Maßnahmen für absolut notwendig, eigentlich völlig unzureichend. Hoffentlich bis bald, liebe Elphi!
Johannes Karl Fischer, 30. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at