Ein bewegender Aufbruch ins Neue: zwei erste Symphonien
Bayerische Staatsoper, München, Live-Stream am 20. Februar 2021
Videostream: 4. Akademiekonzert
Akademiekonzert: Kirill Petrenko. Foto: W. Hösl ©
Musikalische Leitung: Kirill Petrenko
Bayerisches Staatsorchester
von Frank Heublein
Kirill Petrenko am Pult. Er lächelt, wirkt entspannt. Agil legt er los. Jedes Mal, immer! wenn ich den Anfang von Beethovens erster Symphonie höre, werde ich überrascht vom Beginn. Eine Art Fingerzeig: „Jetzt aufgepasst!“. Alert, spannungsgeladen und so agil wie ihr Dirigent spielt das Bayerische Staatsorchester. Vom ersten Takt an.
Melodiebogen vom Holz getragen, mal die Flöte, mal die Oboe, werden mir zu Spannungselementen. Diese werden von den Streichern und dem gesamten Orchesterkorpus übernommen. Der erste Satz beschwingt mich wie ein Schwungrad, sagt mir: „Spring in die Welt hinein!“, macht Spaß und löst große Freude aus.
Der zweite Satz verbreitet entspannte Gelassenheit. Sagt mir „Mach mal ein Päuschen“. Erinnert mich daran, mich auf ein Bänkchen zu setzen. Zu verweilen. Das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne zu drehen. Nichts weiter tun, als auf die Töne, das Vogelgezwitscher der nahen Umwelt zu hören. Blinzend den Flügelschlägen eines Schmetterlings folgen.
Der dritte Satz wirkt wie eine frische Brise im Sommer. Ein Wind, der angenehm kühlt, dem ich mich gern aussetze. Er sagt zu mir „Entdecke!“. Vorwärtsdrängend, hier das Holz, da das Blech. Die alles verbindenden Streicher, da die Geigen, hier die Celli.
Der vierte Satz sagt mir „Feiere!“. Auf ein Tutti folgt die solistische Geige und baut damit Spannung auf für das jubilierende, sehr beschwingte, tanzende Thema. Immer einen Hauch nassforsch. „Pass auf! Ich überrasche Dich mit dem, was gleich kommt“. Forte, Piano, Lento, Vivace. Vollkommen trennscharf und zugleich im Fluss. Souverän dirigiert Kirill Petrenko das Bayerische Staatsorchester. Energiegeladen, lebendig, voller Spannung. Die Freude platzt aus allen Klangporen. Perfekt.
In der Pause wird ein anregendes Gespräch mit Nikolaus Bachler und Kirill Petrenko gezeigt. Der scheidende Intendant verbreitet Sentimentalität, wenn er Kirill Petrenko als „doch noch ein wenig“ Generalmusikdirektor in München einführt. Petrenko äußert, er habe seine Münchner Zeit als sehr positiv in Erinnerung. Er fühlt sich wohl, ins Münchner Staatstheater zu kommen. Das spüre ich in seinem heutigen Dirigat. Ein sehr amüsantes Detail ist Petrenkos Aussage über das für mich atemberaubende Stück „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann. Er sagt, dass Dirigat des Stücks sei eine Art Militärdienst gewesen. Worin ich eine äußerst ironische Anspielung auf die Herausforderung der Zwölftonmusik verstehe.
Etwa 120 Jahre nach der ersten Symphonie Beethovens, die 1799/1800 entstanden ist, hat Dmitri Schostakowitsch 1923-25 seine erste Symphonie komponiert. Mit 18 Jahren hat er mit der Komposition angefangen. Wie Petrenko im Gespräch erwähnt: Unglaublich reif klingt diese Musik. Schostakowitsch weiß zahlreiche Möglichkeiten einer Komposition, meine Hörgewohnheiten zu durchbrechen.
Der Beginn ist eine Vorstellung der einzelnen Instrumente. Eine Vorstellung der unterschiedlichen Klangfarben. Pauke und Trommel verursachen große Aufregung. Im Piano der Flöte fühle ich mich durch den an mich gewandten Satz „Ich hab Dir das schon immer gesagt“ angesprochen. Der erste musikalische Satz verbreitet in mir Entdeckerfreude. Und eben einen Hauch beredte Aufmerksamkeit, was mir dieses „schon immer“ ist, was mir gerade vermittelt wird. Die Frage bleibt in mir unbeantwortet. Ist der Bruch meiner Hörgewohnheiten gemeint? Das Fagott leitet in einen verhauchenden Satzschluss ein.
Der zweite Satz ist drängend forsch. Das Klavier wirkt als Orchesterinstrument. Im Verlauf gewinnt der Satz eine orientalische Note. Genauer wirkt das Thema auf mich Schlangen beschwörend – ich fühle es, ich bin die Schlange! Ich werde gerade betört. Die im Forte schlagenden Pauken und die große Trommel beenden diesen Satz – mitnichten. Es ist eine Generalpause. Das Klavier setzt ein und übergibt zu den ins Piano zum Pianissimo übergehenden Streichern. Wieder ist es wie im ersten Satz ein geradezu ausgehauchter Satzschluss.
Die Oboe setzt den Beginn des dritten Satzes. Das Cello antwortet. Geigen und Bläser forcieren ein Crescendo. Es folgt ein Pianissimo, für mich gefühlt unglaublich lang, es nimmt fast den gesamten dritten Satz ein. Klänge, die so zart und leise sind, dass ich äußerste Konzentration aufwende, sie zu hören. Zugleich werde ich dadurch unglaublich in Spannung versetzt.
Bei den Streichern fühle ich mich an ein verängstigtes Umherschauen erinnert. Auf die Fanfare der Bläser antworten wieder die Streicher mit flirrendem Pianissimo. Die Geige solo sucht, Hörner und Trompeten antworten dramatisch. Jetzt die Trompete mit Dämpfer, wieder spitze ich die Ohren. Erhöht sich weiter meine Spannung. Ein Trommelwirbel löst die Spannung auf und leitet ohne Pause in den 4. Satz über.
Flirrende Aufmerksamkeit. Das nachfolgende Pianissimo von Holz und Streicher wird mit aufgeregtem Forte beantwortet. Erneut Pianissimo. Die Geige, Glockenspiel, Klaviertriller, verhallende Streicher. Jetzt ein Paukenwirbel, und wieder: es ist nicht das Finale. Nur eine erneute abrupte Generalpause, nach der ein Paukensolo einsetzt, das ans Cello übergibt. Die leichte Streicheruntermalung gewinnt im Crescendo die Unterstützung des gesamten Orchesters. Das Tutti kulminiert im jetzt finalen Trommelwirbel. Ganz automatisch warte ich ab, erwarte eine Generalpause, die hier nicht kommt.
Schostakowitsch bricht meine Hörannahmen vielfältig. Ich versuche möglichst annahmelos und offen Musik zu hören. Schostakowitsch macht mir heute klar, dass ich meine Hörannahmen dieses Mal nicht abstreifen kann. Er legt gekonnt musikalische Fährten aus. Nur um dann die aufgebaute Erwartung nicht zu erfüllen. Am deutlichsten wird das bei den Schlusstakten der ersten beiden Sätze. Sie enden nicht im Forte, sondern werden nach einer Generalpause einige Takte fortgesetzt und laufen sanft und leise aus. Das lerne ich, nur um im Finale des vierten Satzes erneut fehl zu erwarten, erneut überrascht zu werden.
Petrenko schafft mit dem Bayerischen Staatsorchester eine mich beeindruckende musikalische Präzision. In beiden Symphonien spüre ich zahlreiche Bruchstellen, die sich für mich in den sehr unmittelbaren Wechseln von Forte zu Piano, von Piano zu Forte ausdrücken. Ich bin fasziniert und beglückt, wie stark der musikalische Fluss in mir ist. All diese abrupten Wechsel erzeugen in mir Spannung, Vorwärtsdrang, eine wunderbare Unmittelbarkeit des immer weiter Hörenwollens.
Frank Heublein, 21. Februar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 1 C-Dur op. 21
Dmitri Schostakowitsch, Symphonie Nr. 1 f-Moll op. 10
Besetzung
Musikalische Leitung: Kirill Petrenko
Bayerisches Staatsorchester