Foto: (c) Monika Rittershaus
Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker
Solist: Daniil Trifonov
Liveübertragung in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker am 29. Januar 2021
Kaum möglich, über einen solchen Abend zu schreiben – rein aus physischen Gründen: wohlig zitternd der ganze Körper, adrenalingetränkt das Herz, aufgewühlt die Seele. Es war wieder einer jener mit Hochspannung erwarteten und jede Erwartung erfüllenden Abende, die uns Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker schenken, seit sie uns mit Tschaikowskys Pathétique beglückt haben.
von Sandra Grohmann
Das Programm schien zusammengewürfelt. Prokofjews erstes Klavierkonzert, das wie seine erste Symphonie die Wiener Klassik aufgreift und verulkt, mag man sich zwar in jede Stückfolge schönreden. Aber die Gemeinsamkeiten der Uraufführung von Anna Thorvaldsdóttirs „Catamorphosis“ und Josef Suks „Sommermärchen“ (Pohádka léta) waren auf dem Programmzettel nicht offensichtlich. Um so besser war die Verbindung überraschenderweise zu hören.
Die Catamorphosis – rätselhafter Titel, vielleicht (so mutmaßte auch Petrenko im Gespräch mit Stefan Dohr) eine Anspielung auf das Motiv von Weltbedrohung und -rettung, das der Komponistin vorschwebte – entpuppte sich als zauberische Pastorale. Von Petrenko geradezu schulmäßig im 4/4-Takt durch- ja, was? –geschlagen? Das gäbe von der zärtlichen Geste, die er wirklich das ganze Stück lang wiederholte, einen völlig falschen Eindruck. Er war in dieser Bewegung der tanzende Dirigent, als der er uns so oft begegnet, und er erschloss uns durch den Puls, den er damit dem Orchester gab, die unbekannte, vielschichtige und zarte Musik überraschend eingängig.
Schön, bei der sorgfältigen Übertragung auch sehen zu können, wie diese Töne entstehen: Mit Bürsten die großen Trommeln und mit Papier (Tüchern?) die Harfensaiten gestreichelt, in den Flügel gegriffen, den Gong mit dem Bogen gestrichen… Besonders schade war es da, dass von all den schwebenden Klängen, die die Philharmonie erfüllt haben müssen, einige nicht durch die heimischen Lautsprecher klangen: Man sah mehr als man hörte. Dennoch ein gelungener Auftakt, der Lust auf Live macht.
Korrespondierend hierzu das auf andere Weise aber ebenso vielschichtige Sommermärchen, mit dem Suk abermals (nach der Symphonie „Asrael“) den Tod gleich zweier geliebter Menschen verarbeitete: Den seines Lehrers und Schwiegervaters Antonín Dvořák und, kurz darauf folgend, den seiner Frau Otylka. Wie schon bei Thorvaldsdóttir haben wir es mit einer Art Programmmusik jedenfalls in dem Sinne zu tun, als konkrete Motive die Komposition anleiteten. Bei Suk, stellt Petrenko sich vor, ist es ein schwerer Tag, der von der aufgehenden über die den Menschen ins Delirium stürzende Mittagssonne zu den blinden Musikern, den Phantasiegebilden und der lindernden Nacht führt, an deren Ende erstmals ein erlösender Tagesanbruch stehen kann.
Der Reichtum an Stimmen und Klangfarben, an Hoffnung, Klage und Verzweiflung nimmt gefangen, wenn er so durchsichtig klingt wie an diesem Abend. Gleichermaßen sind die Einzelstimmen und das große Ganze präsent, und der atemraubende, anrührende Mittelsatz, in dem die zwei „blinden Musiker“ auf ihren Oboen d’amore, begleitet von zwei Harfen, alles über Liebe und Leid singen, was in Musik nur gesungen werden kann, geht durch Mark und Bein.
Nicht einen Moment stellt sich die Frage, warum Suk für Petrenko der liebste aller vergessenen Komponisten ist. Dass uns das Format der Digital Concert Hall überdies noch die Verbindung zwischen Orchester und Dirigent so nah bringt, wie sie uns über die Entfernung der Konzerthalle nicht sein könnte, mag als kleiner Ausgleich für die oben beschriebene klangliche Beschränktheit gelten: Manches Lächeln in beide Richtungen mag verraten, was in den Proben Thema war.
Dazwischen der Prokofjew. Eine etwas andere Welt, in die Trifonov uns entführt – aber nicht weniger mitreißend, nicht weniger begeisternd. Die Kombination Petrenko – Trifonov geht als Traumpaar durch. Ein schlicht perfekter Pas de deux. Trifonov holte die Klangfarben so aus dem Klavier, dass es das Orchester spiegelte. Glockenspiel? Glockenspiel! Geigen? Geigen! Dass er auch das Bravouröse, das sagenhaft Russische mit großer Geste klangmalerte, stand dem Prokofjev gut zu Gesicht, spielt doch das Konzert selbst mit allerhand Klischees. Und Trifonov beherrscht es, dabei jedem Ton eine eigene Farbe zu geben. Da säuseln und strahlen, da trommeln und tanzen die langen Finger. Ein Fest!
Wie der ganze Abend. Eine Liebeserklärung an die Musik und das Leben. If music be the food of love, play on!
Sandra Grohmann, 30. Januar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at