Bizet, Carmen Ensemble; Foto Patrik Klein
Halbszenische Carmen mit einer Titelheldin zum Niederknien
Eines war gewiss an so einem Abend in der Elbphilharmonie Hamburg: über eine schwache Inszenierung, wie sie gelegentlich an anderen Orten der Stadt zu erleben war, musste man sich bei dieser konzertanten, halbszenischen Version nicht ärgern. Das macht die Intendanz des Hauses sehr erfolgreich, indem sie große Opern mit geeigneten Solisten, Chören und Orchestern auf das Podium hebt; und das mehrere Male pro Saison.
Gestern Abend gab es eine ganz besondere Version von Bizets Gassenfeger Carmen.
Der auf barockes Repertoire spezialisierte Dirigent René Jacobs wagte sich gemeinsam mit dem B’Rock Orchestra in die hitzige Stierkampfatmosphäre dieses 1875 uraufgeführten Stücks – und zwar in einer ganz besonderen Version: „Carmen“ erklang in einer Fassung, wie Bizet sie ursprünglich vorgesehen hatte, bevor ihn der Intendant der Opéra comique zu weitreichenden Änderungen drängte.
Diese allererste von insgesamt drei Fassungen erhebt sich als die in der musikalischen Dramaturgie schlüssigste. Auch ohne die berühmte Habanera der Carmen, stattdessen mit einer wunderschönen Arie und einige später eingefügte Zwischenstücke in dieser Fassung von 1874, konnte man hier viele musikalische Bonbons naschen. Befreit von einigen Intermezzi und hispanisierenden Elementen war der dramaturgische Schwung sogar lebendiger als in den beiden anderen Fassungen, auch wenn man diese gewohnt ist. Aber das ist sicher auch eine individuelle Geschmackssache.
Das Orchester war auch gar nicht so barock, wie es zunächst im Besetzungszettel auf den ersten Blick anklang. Große Besetzung war angesagt mit 6 Bässen, die auf zwei Seiten verteilt waren, ausreichend Posaunen und Trompeten, 2 Harfen, doppelte Flöten, Klarinetten und Oboen, ein Englischhorn und 4 historische Hörner. René Jakobs dirigierte den Klangkörper sitzend auf dem Podium mit kargen taktstocklosen Anweisungen, einem moderaten Tempo aber sehr spannenden Bögen. Sicher hatte man an der ein oder anderen Stelle etwas mehr Schmiss erwartet, aber vielleicht auch nur, weil man es nicht anders kannte.
Die Rezitative waren gesprochen, die Akteure auf der Bühne und in den Rängen verteilt und die konzertante Version war aufgelockert durch halbszenische Einlagen im gesamten Konzertsaal. Das wirkte ausgesprochen kurzweilig und bisweilen aufregend frisch. Die Chöre incl. dem Jugendchor sangen und spielten äußerst solide, mit viel Spielfreude und hoher Präzision.
Das solistische Ensemble brauchte keine Vergleiche zu internationalem Spitzenniveau zu scheuen. Allen voran die Titelheldin Gaëlle Arquez. Sie gab als erfahrene Carmen-Darstellerin im glutroten Kleid eine grandiose Heldin mit dunkelst gefärbter Stimme und äußerst erotischer Wirkung. Glaubhaft nahm man ihr ab, dass sie sich niemals einem Mann unterwerfen würde.
Sabine Devieilhe gab als Micaëla eine glühende, mit Engelsstimme ausgestattete Kontrahentin der absoluten Spitzenklasse. Die Zartheit in ihrer Stimmführung, ihre geschmeidigen Koloraturen und ihr nachtigallartiges Wesen ließen alle Herzen im Saal höher schlagen. Der Tenor François Rougier sang als von Carmen besessener den Don José mit lyrischem Schmelz und pointierter Attacke. Der Bariton Thomas Dolié als Toreador Escamillo wurde nicht durch Machismen, sondern durch einen Gentleman mit messa di voce zur explosiven Mischung der Leidenschaft. Auch das weitere Ensemble gefiel durch präzisen Gesang und Spiel.
Der Saal jubelte am Ende. Zu Recht.
Georges Bizet
Carmen / Opéra-comique in vier Akten
Konzertante Aufführung in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Leitung: René Jacobs
B’Rock Orchestra
Chœur de Chambre de Namur
Kinderchor der Opera Ballet Vlaanderen
Gaëlle Arquez, Carmen
François Rougier, Don José
Thomas Dolié, Escamillo
Sabine Devieilhe, Micaëla
Margot Genet, Frasquita
Séraphine Cotrez, Mercédès
Grégoire Mour, Remendado
Emiliano González Toro, Dancaïre
Yoann Dubruque, Moralès
Frédéric Caton, Zuniga
klassik-begeistert-Autor Patrik Klein ist ein leidenschaftlicher Konzert- und Opernfreak, der bereits über 300 Konzerte (Eröffnungskonzert inklusive) in der Elbphilharmonie Hamburg verbrachte, hunderte Male in Opern- und Konzerthäusern in Europa verweilte und ein großes Kommunikationsnetz zu vielen Künstlern pflegt. Meist lauscht und schaut er privat, zwanglos und mit offenen Augen und Ohren. Die daraus entstehenden meist emotional noch hoch aufgeladenen Posts in den Sozialen Medien folgen hier nun auch regelmäßig bei klassik-begeistert – voller Leidenschaft, ohne Anspruch auf Vollständigkeit… aber immer mit großem Herzen!