Foto: Leo Nucci, Roberto Ricci (c)
Insgesamt steht Leo Nucci praktisch 50 Jahre auf den Bühnen der Welt und singt noch immer. Seine Stimme ist über die Jahre dünner und brüchiger geworden, der baritonale Samt immer mehr verblasst, was ja ein ganz natürlicher Alterungsvorgang ist.
Opéra Royal de Wallonie, Liège, 31. März 2019
Konzert Leo Nucci
von Dr. Holger Voigt
Er hat die Rolle des Rigoletto in der gleichnamigen Oper von Giuseppe Verdi mehr als 500 Mal gesungen. Genau weiss er es vermutlich selbst nicht, zumal er sie noch immer singt. Nicht irgendwo. Er singt sie auf der Bühne des Teatro alla Scala in Mailand, demnächst im September 2019. Ob er seiner Stimme damit einen Gefallen tut, ist fraglich, schließlich ist er dann 77 Jahre alt. Die Rede ist von Leo Nucci, dem in Bologna geborenen Bariton, Ehrenbürger der Stadt Parma in der Lombardei. Er ist Kammersänger und Träger des Ehrenringes der Wiener Staatsoper sowie Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres.
Ich hatte Leo Nucci zu Beginn der 1980er-Jahre in Hamburg das erste Mal voller Begeisterung als Miller in Verdis „Luisa Miller“ (zusammen mit Giuseppe Sinopoli, Katia Ricciarelli und José Carreras) gesehen und ihn seither immer wieder in weiteren Werken erlebt. Er war oft eine Idealbesetzung für die von Verdi geradezu für ihn wie geschaffenen Rollen eines zärtlich fühlenden, oft väterlichen, wenngleich egoistischen, zuweilen sogar intriganten Nebenspielers (ohne eine Nebenrolle zu sein!). Glänzend aber auch in den dramatischen Hauptrollen eines „Rigoletto“ oder „Nabucco“. Als 2013 aus Anlass des 200. Geburtstages von Giuseppe Verdi die Gesamtwerkedition als „Tutto Verdi“ auf DVD/BlueRay erschien, wurde diese inoffiziell auch als „Tutto Nucci“ gepriesen: Leo Nucci war fast in allen Bariton-Partien auf dieser Edition zu hören und zu sehen.
Nun kam er – zwei Wochen vor seinem 77. Geburtstag – in das belgische Liège (Lüttich) an die Opéra Royal de Wallonie, wo er über viele Jahre hinweg zahlreiche umjubelte Auftritte in seinen Rollen hatte.
Seine besondere Beziehung zu diesem Opernhaus scheint noch weiter gewachsen zu sein, nachdem der Italiener Stefano Mazzonis di Pralafera die Intendanz des Hauses übernommen hat – ebenso ein „Traditionalist“ in Sachen Inszenierung wie es auch Leo Nucci ist. Dieser weigerte sich 1986 in Hamburg an einer Neuinszenierung des „Rigoletto“ von Johannes Schaaf mitzuwirken, in der Rigolettos Tochter Gilda entwürdigend in einem Käfig gehalten dargestellt werden sollte. Der seinerzeitige Theaterdonner war riesig, die Inszenierung platzte und Leo Nucci wurde schnell von den Medien als Buhmann auserkoren. Ich erinnere mich noch wortgenau an eine regionale TV-Talkshow, in der zwei prominente Künstler tatsächlich behaupteten, er (Nucci) könne doch gar nicht singen, er sei schließlich doch eigentlich nur ein Mechaniker bei FIAT….
Nun, das ist lange her; die Nachtragenden sind verstummt oder verstorben; Leo Nucci aber hat seither immer gesungen. Insgesamt steht er praktisch 50 Jahre auf den Bühnen der Welt und singt noch immer. Seine Stimme ist über die Jahre dünner und brüchiger geworden, der baritonale Samt immer mehr verblasst, was ja ein ganz natürlicher Alterungsvorgang ist. Seinen Rückzug plant er schrittweise, und es scheint so, als ob er sich zu einer Abschiedsrunde aufgemacht hätte. Wenn es so ist, führte sie ihn jetzt in das belgische Liège.
Kein Liederabend im herkömmlichen Sinne mit Pianobegleitung, sondern ein Nachmittagskonzert, das sich als eine Art konzertanter Kammeroper entpuppte: Arien und Zwischenspiele mit Begleitung durch das hervorragend aufspielende Italian Opera Chamber Ensemble (Piano, zwei Violinen, Bratsche, Violoncello, Klarinette, Harfe). Allein diese siebenköpfige Besetzung zeigte, wie dicht das Opernwerk Verdis komponiert ist, dass es durch eine orchestrale „Ausdünnung“ überhaupt nichts an seiner Wirkung einbüßt. So klang das Vorspiel zu Verdis „La Traviata“ unglaublich intim und dadurch besonders ergreifend.
Leo Nucci zeigte sich bestens aufgelegt und voller Witz und Energie; die Instrumentalisten standen dem in nichts nach. Er betrat die Bühne und wurde sofort mit einem begeisterten Applaus begrüßt. Er bedankte sich mit einer Verbeugung und einem „Merci“ und fügte dann umgehend ein „et au revoir“ an. Dabei verließ er die Bühne, um sogleich wieder auf dieselbige zurückzustürzen, zu den Worten der Auftrittsarie des Figaro aus Rossinis „Il Barbiere di Siviglia“ („Largo al factotum della città, Largo!…”). Mit diesem Auftritt versetzte er seine Zuhörer sofort in hellste Begeisterung, schließlich handelte es sich um eine seiner absoluten Bravourstücke.
Es folgten Arien aus “Gianni Scicci”, “Le Nozze di Figaro” und Verdis “I Masnadieri”. Kein leichtes Programm also, und dabei musikalisch eine kluge Zusammenstellung, die unterschiedliche Komponisten zum Vergleich nebeneinander stellte.
Leo Nuccis Stimme meisterte alle Schwierigkeiten, einige davon nur mit Kraft und Technikeinsatz. Sie ist heute mehr dramatisch als lyrisch, doch sind alle Farben für ihn immer noch verfügbar, wenngleich sie oft nicht mehr schön, sondern laut klingen. Es gelingen ihm hochdramatrische Spitzentöne, deren vitale Ausdruckskraft viele jüngere Sänger nicht erreichen. Kein Wunder also, dass er Nabucco und Rigoletto in all ihrer Zerrissen- und Gerissenheit glaubhaft darstellen kann. Da diese Rollen aber einem sängerischen Marathon gleichen, muss man sich fragen, ob derart kräftezehrende Partien seiner gegenwärtigen Stimme noch gut tun können. Immerhin blitzen immer wieder klangschöne und warm timbrierte Phasen auf, die die ehemalige Schönheit dieser Stimme erahnen und erinnern lassen.
Kein Nachlassen im zweiten Teil nach der Pause. Im Gegenteil – jetzt folgten die kolossalen, hochdramatischen Arien aus “I Due Foscari”, “Il Trovatore” und “Don Carlo”. Die Arie “Il balen del suo sorrisco” aus “Il Trovatore” erwies sich als klangschönster Höhepunkt des Konzertes und riss die Zuhörer von ihren Sitzen und Stühlen (in Liège gibt es viele frei bewegliche Einzelstühle).
Vor der letzten Arie “Per me giunto è di supremo…” aus „Don Carlo” glänzte das Italian Opera Chamber Ensemble ein weiteres Mal mit Paolo Marcarinis “Notturno”.
Am Ende des Konzertes frenetischer Beifall, Fußtrampeln und Standing Ovations sowie rhythmisch-skandiertes Klatschen. Sichtlich bewegt und gut gelaunt entschloss sich Leo Nucci zu mehreren Zugaben, es wurden tatsächlich etwa 35 Minuten! Sein Rigoletto führte dazu, dass die Zuhörer reihenweise von den Sitzen sprangen. Noch immer gut gelaunt und kaum erschöpft, ließ er die Zuhörer mitsingen und dirigierte sie von der Bühne aus.
Ein bewegendes Konzert, auch weil es wie eine Form von Abschied erschien. Vor einer solchen Sängerpersönlichkeit und seinem Lebenswerk kann man sich nur verneigen. Das Publikum dankte ihm in seinem Applaus auch als Würdigung seiner gesamten Laufbahn.
Es war deutlich zu hören, dass die Stimme Leo Nuccis oft nur mit Anstrengung und Technik den Herausforderungen gerecht werden konnte. Das gelang ihm aber in der bestmöglichen Weise. Grazie mille, Leo Nucci!!!
Dr. Holger Voigt, 31. März, 2019, für
klassik-begeistert.
Bariton: Leo Nucci
Orchestra : Italian Opera Chamber Orchestra
Paolo Marcarini (Piano, Arrangements)
Pierantonio Cazzulani (Violine)
Lino Pietrantoni (Violine)
Christian Serazzi (Bratsche)
Andrea Cavuoto (Violoncello)
Stefania Belotti (Klarinette)
Davide Burani (Harfe)
Programm
Giacchino Rossini: Il Barbiere di Siviglia – “Largo al factotum…”
Giacomo Puccini: Gianni Schicchi – “In testa la cappellina… “
Deborah Henson-Conant: Baroque flamenco (Arrangement for Chamber Orchestra)
Wolfgang Amadeus Mozart: Le Nozze di Figaro – “Aprite un po’ quegl’occhi…”
Pietro Mascagni: Cavalleria rusticana – “Intermezzo” (Arrangement for Chamber Orchestra)
Giuseppe Verdi: I Masnadieri – “La sua lampada vitale langue…”
Giuseppe Verdi: I Due Foscari – “Eccomi solo alfine… O vecchio cor che batti…”
Giuseppe Verdi: Il Trovatore – “Il balen del suo sorriso…”
Giuseppe Verdi: La Traviata – Prelude of act III (Arrangement for Chamber Orchestra)
Giuseppe Verdi: I Vespri siciliani – „In braccio alle dovizie…“
Paolo Marcarini: Notturno (Arrangement for Chamber Orchestra from Falstaff of Giuseppe VERDI)
Giuseppe Verdi: Don Carlo – “Per me giunto è il dì supremo… O Carlo ascolta…”