Youn Sun Nah © Seung Yull Nah
Konzert Youn Sun Nah mit Bojan Z
Prinzregententheater München, 9. Februar 2024
von Dr. Petra Spelzhaus
Wer kennt sie nicht, die Minuten beim Zahnarzt, die sich zäher als mehrere Packungen Kaugummis ziehen und einfach nicht vorbeigehen wollen? Und dann gibt es den Antagonisten, die Stunde, die wie im Flug einer Concorde an einem vorbeizieht. Man zieht und zerrt an jedem Augenblick, versucht, jeden Moment festzuhalten, jede Sekunde einzusaugen. Und doch muss man traurig freudetrunken feststellen, dass sich auch große Momente nicht festhalten lassen. Einen solchen Mega-Antagonisten, der locker ein Dutzend Zahnarztbesuche kompensiert hat, durften wir am Freitagabend im Prinzregententheater München erleben.
Ich wollte gar nicht über das Youn Sun Nah-Konzert schreiben, habe gerne den vollen Ticketpreis bezahlt, es mir auf meinem Platz in der zweiten Reihe bequem und keinerlei Notizen gemacht. Und doch saugt es mich direkt nach dem Ereignis an mein Tablet, dass ich mir die Nacht um die Ohren haue. Was wiederum kein Problem ist, hat uns das Konzert doch in ein Bad von Energie getaucht.
Die große südkoreanische Jazzdiva begrüßte uns mit einem schüchtern-herzhaften Lächeln. Im Gepäck hatte sie Songs großer Sängerinnen und zum Teil auch Sänger, die ihr Leben geprägt haben. Trotz der Vielfalt der Musikstile und Epochen lag das Repertoire – laut Konzertankündigung – noch immer am Rand des Jazz. Wobei ich mich gefragt habe, was die Ränder des Jazz sind. Wenn sie so aussehen, dann möchte ich nichts anderes als Jazzränder mehr erleben.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so wandlungsfähige Stimme gehört zu haben. War das perfekt getimte Dauervibrato am Ende von „Sometimes I feel like a motherless child“ zart und elfengleich, röhrte sie bei der letzten Zugabe „Jockey Full of Bourbon“ von Tom Waits wie ein riesiges in Whiskey getränktes Reibeisen. Den Song „Coisas da Terra“ einer ihrer Lieblingsinterpretinnen, Maria João, kündigte Youn Sun Nah scheu als schwierig zu interpretieren an, um dann als elegante Vokalartistin aberwitzig durch Akkorde und Harmonien zu flitzen. Grace Jones muss sich nach Nahs emotional-wilder Version von Astor Piazzollas „I’ve never seen that face before (Libertango)“ wie ein Schulmädchen gefühlt haben.
Dass die südkoreanische Sängerin traumwandlerisch die Koloraturen in höheren Tonlagen beherrschte, war für die Tochter einer klassischen Sängerin und eines Dirigenten selbstredend. Die Interpretation von französischen Chansons stand einer Edith Piaf oder Zaz in nichts nach. „Killing me softly“ – der Song, bei dem das Publikum auch ein wenig seine Stimmen ölen konnte – begleitete sie sich Youn Sun Nah lediglich mit einer kleinen Spieluhr.
Den restlichen Abend hatte sie den kongenialen Pianisten Bojan Zulfikarpašić, der aus unerfindlichen Gründen nur Bojan Z genannt wird, an ihrer Seite. Seine Töne produzierte er akustisch und elektronisch, von zart bis ekstatisch, phasenweise den Steinway-Flügel betrommelnd wie eine riesige Conga. Der Tastenvirtuose und die Sängerin verschmolzen zu einer fulminanten musikalischen Urgewalt.
Der elektrisierte Saal bebte, trampelte, johlte. Es hielt definitiv niemanden mehr auf den Sitzen bei den zwangsläufigen Standing Ovations. Als es am schönsten war, schnappte sich die sympathische Sängerin ihr Handy und versuchte den Moment des Kollektivrauschs per Selfie festzuhalten, bevor sie mit offenen Lachen und Bojan Z die Bühne in die Katakomben verließ.
Was bleibt nach einem wahrhaft großen Konzertabend neben der ernüchternden Erkenntnis, dass man auch diesmal den Augenblick nicht einfach mit aller Macht fixieren konnte? Es bleibt das Gefühl, dass jede Faser des Körpers mit Strom durchflossen wird, die Gewissheit, dass uns Musik in einen Ozean von Glücksgefühlen tauchen kann. Zum Trost gibt es noch die Tonträger beziehungsweise Streaming-Portale. So werde ich bei meinem nächsten Zahnarztbesuch Youn Sun Nahs aktuelle Aufnahmen von „Elles“ auf meinen Kopfhörer legen, in der Hoffnung, dass auch hier die Zeit viel zu schnell verrinnen möge.
Sollte jemand aus meiner alten Heimat Bremen die Zeilen lesen, heißer Tipp: Die große Jazzsängerin tritt am 17.02.24 in der Music Hall Worpswede auf. Weitere Termine der Deutschland-Tournee: 12.02.24 Berlin, 13.02.24 Hamburg, 14.02.24 Darmstadt, 15.02.24 Freiburg im Breisgau.
Dr. Petra Spelzhaus, 10. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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