– anhand des Programmheftes der Bayreuther Festspiele 1884
von Jolanta Łada-Zielke
Manchmal finde ich bei meinen Freunden wahre Schätze wie ein Originalexemplar des Bayreuther Festblatts von 1884, das Eigentum meiner Pianistin ist. Dieses 60-seitige Programmheft gab die Central-Leitung des Allgemeinen Richard Wagner-Vereins in München ein Jahr nach dem Tod des Komponisten heraus. Sein Format ähnelt dem heutigen A3.
Auf der Innenseite des Umschlags befindet sich die Ankündigung des Bühnenweihfestspiels „Parsifal“, welches man im Jahre 1884 vom 21. Juli bis zum 8. August zehnmal aufführte. Jede Rolle war doppelt besetzt, selbst Klingsors Blumenmädchen traten in zwei Gruppen auf. Die Eintrittskarten kosteten damals je 20 Mark und man konnte sie vom Verwaltungsrat der Bühnenfestspiele oder von auswärtigen Musikalienhandlungen bekommen.
Ein Porträt von König Ludwig II. von Bayern füllt die erste Seite aus. Die Publikation enthält Reproduktionen von wunderschönen Stichen, welche die Autotype-Company München (Patent Meisenbach) den Verfassern als Cliché zur Verfügung gestellt hat. Darunter befinden sich die Bilder der ersten Entwürfe der Kostüme für den „Fliegenden Holländer“ und „Lohengrin“ von Julius Schnorr von Carolsfeld. Im zweiten Teil der Herausgabe gibt es Faksimiles der Partitur der Trauerklage zu Siegfrieds Tod.
Die Autoren der Artikel diskutieren verschiedene Aspekte von Richard Wagners Werk. Carl Friedrich Glasenapp beschreibt die Entwicklung seines Schaffens, besonders „das Kunstwerk der Zukunft“ und die Idee des Gesamtkunstwerks vom „Fliegenden Holländer“ bis zum „Parsifal“. „Die Musik der Zukunft“ ist ebenfalls das Thema des Beitrags der amerikanischen Musikwissenschaftlerin Elisabeth E. Evans.
Richard Pohl befasst sich mit dem Phänomen des Wagnerianismus, das, seiner Meinung nach, am Tag der Uraufführung des „Lohengrin“ am 28. August 1850 in Weimar, anlässlich von Goethes Geburtstagsfeierlichkeiten, begann. Wenn dies eine Anfangsphase der Entwicklung des Wagnerismus war, würde ich die Zeit nach dem Tod des Komponisten als eine Übergangsphase bezeichnen. Wie es weiter ging, hat Alex Ross in seinem Buch „Die Welt nach Wagner“ beschrieben. Wagners politische Denkweise ist das Thema einer Arbeit von Constantin Frantz.
Weitere Texte betreffen den Einfluss von Schopenhauer und Beethoven auf den Bayreuther Meister. Wilhelm Tappert präsentiert die Ergebnisse seiner Forschungen über Wagners Besuche in Berlin, und seine Auseinandersetzungen mit der feindseligen Presse. Der Komponist war genau zehn Mal dort, das letzte Mal im Mai 1881, als er die erste und letzte Aufführung des „Ring des Nibelungen“ von Angelo Neumann im Viktoriatheater sah. Julius Hey bespricht Richard Wagners Stilbildungsschule.
Dann finde ich in diesem riesigen Heft Artikel französischer Autoren, darunter „Richard Wagner et l’opéra français“ von Louis de Fourcaud und „Souvenir de Triebchen“, von Judith Gautier im August 1869 geschrieben. Mathilde Blind analysiert den „Wagnerismus in England“.
Das Heft enthält noch einige Gedichte, darunter das aus 29-Strophen bestehende Poem „Auf Richard Wagners Tod“ von Ernst von Wildenbruch und ein englischsprachiges Gedicht zu demselben Thema von Alfred Forman. Neben dem Bild des Palazzo Vendramin in Venedig, wo Richard Wagner am 13. Februar 1883 starb, steht die 22-strophige Riccardo-Wagner-Ode auf Italienisch. Davor befindet sich ein Artikel über Luigi Trevisan detto (alias) Ganasette – „Gondoliere di R. Wagner“.
Ich bräuchte diese Beiträge nicht zu besprechen, weil es zu all diesen Fragen bis heute mindestens eine Buchausgabe gibt. Es ist jedoch ein wunderbares Gefühl, dieses riesige Heft in die Hand zu nehmen, es aufzuschlagen und sich die Atmosphäre der Bayreuther Festspiele 1884,ein Jahr nach dem Tod ihres Schöpfers, vorzustellen.
Jolanta Łada-Zielke, 29. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jolanta Łada-Zielke, Jahrgang 1971, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anläßlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.