Foto: Stephen Gould als Siegfried © Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele
„Ich sah Stephen Gould mehrmals im Festspielpark spazieren gehen mit auf die Noten fixiertem Blick. „Im letzten Jahr habe ich diese Partitur überall hin mitgenommen, wohin ich gegangen bin“, erzählte er mir damals im Interview.“
Ein Gespräch mit dem Heldentenor Stephen Gould und dem Regisseur Tankred Dorst (1925-2017)
von Jolanta Łada-Zielke
Wer ist eigentlich der Hauptheld der Nibelungen-Sage? Einige finden, der tapfere Siegfried, andere meinen, dass sich die Handlung vielmehr auf den Göttervater – Wotan – konzentriere, der Ruhm und Macht seines Königreichs anstrebt, aber seine Träume auf rechte und edelmütige Weise nicht erfüllen kann. In der Inszenierung von Tankred Dorst (Bayreuther Festspiele 2006) war Alberich (Andrew Shore) die zentrale Figur. Zwar verlor er seinen Schatz, blieb aber nicht ohne Einfluss auf die weiteren Ereignisse. Durch sein Handeln bewirkte er schließlich die endgültige Katastrophe.
Im Gegensatz zu Alberich hatte Siegfried keinen Einfluss darauf, was mit ihm passieren würde. Er reagierte nur auf die Situation, in die er verstrickt war. In der ersten Szene des „Siegfried“ beobachten wir seine Auseinandersetzung mit Mime (Gerhard Siegel) in einem Klassenzimmer für Naturwissenschaft, in dem sich ein Skelett, ein Globus, das Periodensystem der Elemente und eine Chemie-Apparatur befindet. Der junge Siegfried reißt einen Holzpflock aus seinem Kinderbett heraus und demoliert damit alles um sich herum. Hatte sich Richard Wagner ihn so vorgestellt, als er über ihn schrieb: „Das ist ein Junge, stark und schön, ohne Angst und Eifersucht, naiv und selbstständig, ohne Sorge in die Zukunft schauend, unbewusst von keinem Rechte, weder göttlicher noch menschlicher Schaltungen“?
Die Tötung des Drachen wurde auf der Bühne nicht gezeigt. Das Unterholz im Wald, wo Fafner weilte, rückte auseinander und in seiner Tiefe erschien ein riesengroßes Maul mit Zähnen. Siegfried geht hinein und kommt zurück. Sein Schwert ist mit Blut beschmiert.
Dann kommt eine schön gespielte Szene mit Brünnhilde, in der sie sich einander annähern und wieder von sich entfernen. Siegfried und Brünnhilde (Linda Watson) verhalten sich wie Teenager, die fasziniert und betört voneinander sind. Dieses Gefühl entwickelt sich, geht mitten durch eine schwierige Krise ein und wird erst im Moment von Siegfrieds Tod wirklich reif.
Manchmal wurden für Siegfrieds Rolle zwei Sänger verpflichtet. In der Saison 2006 jedoch spielte die ganze Siegfried-Rolle – sowohl in „Siegfried“ als auch in der „Götterdämmerung“ – ein einziger Heldentenor: Stephen Gould.
Schon ein Jahr zuvor, als er in Bayreuth den Tannhäuser sang, bereitete er sich gründlich auf diese neue Herausvorderung vor. Ich sah Stephen Gould mehrmals im Festspielpark spazieren gehen mit auf die Noten fixiertem Blick. „Im letzten Jahr habe ich diese Partitur überall hin mitgenommen, wohin ich gegangen bin“, erzählte er mir damals im Interview.
Von Stephen Gould gespielt ist Siegfried fast eine lustige Figur. Er brachte das Publikum zum Lachen; sowohl mit seinen jugendlichen Streichen, mit denen er Mime irritiert, als auch mit seiner Ungeschicklichkeit im Zusammentreffen mit den Gibichungen, unter denen er sich wie ein Indianer in New York benahm. Der Kontrast zwischen ihm und anderen Charakteren wurde ausgezeichnet dargestellt, als er seine nachlässige Waldkleidung mit dem schicken, weißen Anzug Gunters verglich. Bei der Blutsbrüderschafts-Zeremonie biss Siegfried einfach in seine Hand, während Gunther fast ohnmächtig wurde, als Hagen in seine Ader stach.
Stephen Gould sagte, es sei für ihn schwieriger gewesen, den jungen Siegfried zu singen und mit der Stimme seine wilde und ungezähmte Natur zu zeigen. In der „Götterdämmerung“ ist der Held bereits älter und reifer und von einem erfahrenen Sänger leichter darzustellen.
Der Regisseur Tankred Dorst sagte über Siegfried als Charakter:
„Der junge Siegfried schmiedet laut Libretto ein neues Schwert; meiner Meinung nach nicht, weil er ein guter Schmied ist. Auf diese Weise will er seine schlechte Vergangenheit und alles, was mit ihr verbunden ist, zerstören. Deshalb zerbricht er das Kinderbett und neckt Mime. Er ist nicht böse, wird aber leicht wütend. Er hat nichts von einem Ritter in sich. Ganz im Gegenteil: er ist asozial und sorglos, weiß nicht, was er tut. Ich wollte Siegfried als einen jungen Mann darstellen, der gerade die Welt kennenlernt. Als er Brünnhilde erweckt, weiß er zuerst nicht, wie er mit ihr umgehen soll. Brünnhilde hatte auch Angst vor ihm. Die Aufgabe beider Sänger war es, diese Unsicherheit und Angst zu zeigen.“
Am Ende unseres Gesprächs fragte ich den Regisseur, ob für ihn die Arbeit mit Sängern schwieriger als mit Schauspielern war.
„Dies ist eine ganz andere Art von Arbeit, obwohl ich mich mit einigen problemlos verstanden habe“, antwortete er. „Ich inszeniere oft meine eigenen Stücke und bisher hatte ich mich nur mit Schauspielern befasst. Glücklicherweise war die Arbeit mit der Mehrheit der Besetzung des „Ring“ gut, weil sie in Bezug auf die Bühne dachten. Einige von ihnen sind großartige Schauspieler, zum Beispiel Edith Haller (Gudrun), Alexander Marco-Buhrmester (Gunter) und Hans Peter Koenig (Hagen). Mit anderen war es schwierig, zum Beispiel mit Falk Struckmann (Wotan), der diese Rolle bereits in anderen Produktionen sang und anfangs nicht mit seinen Gewohnheiten brechen konnte. Ich hatte die größten Schwierigkeiten mit denen, die die Oper klassischerweise singen.“
Stephen Gould erzählte mir noch eine lustige Anekdote aus einer Probe zu „Siegfried“:
„Als ich Brünnhilde im dritten Akt erweckte, nahm ich ihr die Decke weg, unter der sie lag. Vor einer der letzten Proben wurde das Hemd, das sie in dieser Szene trägt, zum Waschen mitgenommen. Sie hatte also nichts an und niemand hatte mir das gesagt. Als ich unter die Decke schaute, war ich sehr überrascht und hatte wirklich einen guten Grund zu singen: Das ist kein Mann! Dann lachten alle.“
Jolanta Lada-Zielke, 10. Mai 2020, für
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Jolanta Lada-Zielke, 48, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den Zwanzigern und Dreißigern. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.