Am Johannistag finden häufig Konzerte mit Carl Orffs „Carmina Burana“ statt, weil das Werk thematisch zum Mittsommer passt. 2006 wurde der Chor der Kantorei Sankt Barbara, in dem auch ich sang, eingeladen, das Stück im Rahmen der jährlichen Veranstaltung „Wianki“ (Kränze) in Krakau aufzuführen.
Von Jolanta Lada-Zielke
Der Name „Wianki“ stammt aus der alten slawischen Volkstradition, nach der die jungen Mädchen in der Mittsommernacht Kränze banden und sie in einen Fluss oder Bach warfen. Die jungen Männer standen derweil am anderen Ufer. Derjenige, der den Kranz eines bestimmten Mädchens herausfischte, würde sie später zu seiner Ehefrau nehmen.
So lange ich mich erinnern kann, fand um den 21. Juni in Krakau immer eine große Show an der Weichsel statt. Am linken Ufer des Flusses wurde eine Bühne organisiert und das Publikum saß am rechten Ufer in getrennten Bereichen. Das künstlerische Programm beinhaltete immer ein Konzert mit Popstars und dazu andere künstlerische Ereignisse. 2006 trat zunächst die Band Marillion auf und ganz am Ende gab es eine Tanz- und Musikperformance mit den „Carmina Burana“ in der Fassung für zwei Klaviere und Schlagzeug sowie einen Chor und Solisten. Der polnische Sänger griechischer Herkunft Jorgos Skolias improvisierte während dieser Vorstellung mit seiner Stimme und zwei Tänzer machten ihre Performances während der Instrumentalsätze.
Die Show wurde von einem Krakauer Theaterregisseur geleitet. Es fiel uns sofort auf, dass er – gelinde gesagt – mehr Erfahrung in der Vorbereitung von Theateraufführungen als von musikalischen Darbietungen hatte. Das Wichtigste für ihn war die visuelle Seite des Spektakels, also die Art, wie sich die Darsteller bewegen sollen. Wir hatten auch einen Choreografen, der mit uns speziell den ersten Satz „O Fortuna“ vorbereitete, bei dem wir mit brennenden Fackeln tanzten.
Aus dem gesamten Stück wurden einzelne Fragmente ausgewählt: Wenn ein Teil aus drei Strophen bestand, wie zum Beispiel „Ecce Gratum“, sollten wir nur eine davon aufführen. Ursprünglich sollten wir als Chor das ganze Stück singen, aber es stellte sich heraus, dass es Probleme mit der Verstärkung des Tonsystems gab: Aufgrund der Tatsache, dass sich der Fluss zwischen uns und dem Publikum befand, gäbe es zu viel Nachhall und der Klang würde mit Verzögerung das andere Ufer erreichen. Deswegen wurde beschlossen, dass die „Carmina“ aus dem Playback läuft und wir nur mit Lippenbewegung, also stumm (in Polen sagt man: wie ein Fisch) singen sollten. Es musste aber authentisch aussehen, deshalb bekamen wir die Aufnahme der relevanten Fragmente auf einer CD und die Texte, die wir auswendig lernten.
Unser Chor selbst zählte etwa dreißig Personen und brauchte noch Verstärkung, deshalb dachten wir darüber nach, einen Laienchor dazu zu engagieren. Ich schlug den Chor der Technischen Universität Krakau „Cantata“ vor, in dem ich ab und zu als Aushilfe mitsang. In diesem Fall entschied jedoch „Vitamin B“. Aufgrund verschiedener Vereinbarungen zwischen den Organisatoren wurden Statisten einer Künstler-Agentur an dem Projekt beteiligt. Es waren hauptsächlich junge Männer, die die „Carmina Burana“ nicht kannten, also konnten sie den Gesang auch nicht simulieren. Man stellte sie in den letzten Reihen auf, damit sie dem Publikum nicht auffielen.
Die ganze Vorstellung wurde von Kameras auf mehrere Bildschirme übertragen, auf denen man entsprechend vergrößerte Mitschnitte der Aufführung sehen konnte. Uns wurde befohlen, keine privaten Gesten zu machen, keine Kommentare auszutauschen und nicht zu lachen, weil es während der Sendung sehr unprofessionell aussähe.
Unsere Kostüme wurden zu einem weiteren strittigen Thema. Wir bekamen rote Kapuzenmäntel aus Polyester, die wie Regenmäntel aussahen. Während der Proben, die tagsüber bei 30 Grad Hitze stattfanden, kochten wir fast darin. Es war gut, dass das Konzert selbst am Abend stattfand, als die Temperatur etwas sank. Während des Tanzes mit den Fackeln mussten wir einen Zwei-Meter-Abstand voneinander halten, um nicht versehentlich die Kleidung der Person neben uns in Brand zu setzen.
Am Ende von „O Fortuna“ löschten wir die Fackeln und bewegten uns am ganzen Ufer hin und her: Von dem riesigen Glücksrad bis zur Tanzbühne und zurück. Die ganze Zeit gaben wir vor zu singen. Uns wurde gesagt, dass wir von weitem wie eine riesige rote Masse aussahen. Unsere Aufgabe als Chor in dieser Aufführung war dann tatsächlich die von Statisten. Die Zuschauer verstanden nicht, worum es ging. Kein Wunder, dass eine Krakauer Journalistin später schrieb: „Das alles sollte hervorragend sein, aber es kam wie gewohnt…“
Es war ein Trost, dass wir für die Teilnahme am Projekt bezahlt wurden und während der Proben eine tolle Zeit miteinander verbrachten.
Jolanta Lada-Zielke, 14. Juni 2020, für
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Jolanta Lada-Zielke, 48, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den Zwanzigern und Dreißigern. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.