Ladas Klassikwelt 55: Heute hätte Beethoven geheilt werden können

Ladas Klassikwelt 55: Heute hätte Beethoven geheilt werden können

„Ich glaube, dass Beethovens Hörstörung mit Hilfe der heutigen Medizin hätte geheilt werden können, er hätte jedoch die Art seines Komponierens nicht geändert.“

von Jolanta Łada-Zielke

Über den Hörverlust bei Ludwig van Beethoven wird bis heute diskutiert und spekuliert. In seinem 250. Jubiläumsjahr wurde es zum Thema des medizinisch-musikalischen Symposiums „Ludwig van Beethoven: der Gehörte und der Gehörlose“, das Mitte Oktober an der Universitätsklinik Bonn stattfand. Die Veranstaltung wurde zusammen mit dem Kuratorium der Stiftung Beethoven-Haus Bonn organisiert. Daran nahmen bedeutende Wissenschaftler, vor allem Experten der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und Phoniatrie, Spezialisten für Musikmedizin, Musikwissenschaftler und Journalisten teil.

Leider konnte ich nicht alle Vorträge online verfolgen, habe aber das Buch gelesen, das daraus entstanden und auch als E-Book erhältlich ist. Anfangs wollte ich es nur oberflächlich durchblättern und nur die wichtigsten Themen erfassen. Die Lektüre hat mich jedoch völlig in Anspruch genommen, ich konnte mich nicht von dieser Publikation losreißen.

Zu Beginn gibt es einen Text von Bernhard Richter und Claudia Spahn (beide sind Leiter des Instituts für Musikmedizin an der Hochschule für Musik Freiburg) über die Entwicklung der Medizin in Österreich während der Regierungszeit von Kaiserin Maria Theresia und die damaligen hygienischen Bedingungen. Die beiden Autoren (später auch Norbert Flörken) beschreiben die Freundschaft zwischen Ludwig van Beethoven und dem Arzt Franz Gerhard Wegeler, dem der Komponist in seinen Briefen nicht nur gesundheitliche, sondern auch persönliche Probleme anvertraute. Beethoven widmete sein Trio op. 38 Es-Dur für Klavier, Klarinette und Violine seinem anderen Arzt, Jean Adam Schmidt, der ihm die Galvanisierung als Methode der Behandlung seines Hörens empfiehl.

Carl Czerny, Beethovens Schüler, unterscheidet drei Stadien in der Entwicklung von Beethovens Krankheit. In den Jahren 1802-1812, also ab seinem 33. Lebensjahr, entwickelte sich bei Beethoven eine leichte Beeinträchtigung, dann begann sich sein Gehör zu verschlechtern und seit 1816-17 war er völlig taub.

„Beethoven verfügte über eine ausgeprägte Resilienz und war in der Lage weiter zu komponieren, trotz seiner getrübten Gesundheit.“

Einige Dozenten beziehen sich auf das sogenannte „Heiligenstädter Testament“ von 1802, in dem Beethoven sein körperliches und geistiges Leiden im Zusammenhang mit der fortschreitenden Taubheit beschrieb. Tatsächlich ist es ein Brief, den der Komponist während seiner Kur in Heiligenstadt bei Wien an seine Brüder schrieb. Er klagt besonders über Einsamkeit, weil er sehr gesellig sei und jetzt Menschen meiden müsse. Der Komponist schämte sich, sie zu bitten, lauter mit ihm zu sprechen, umso mehr, als in dieser Zeit Taubheit mit Dummheit assoziiert wurde. Beethoven gibt zu, Selbstmordgedanken zu haben, und nur die Kunst hindere ihn daran, diesen letzten Schritt zu tun. Das „Heiligenstädter Testament“ wird im Buch vollständig zitiert, sogar die einzelnen Verse sind nummeriert.

Claudia Spahn weist auf Beethovens Fähigkeit der „Resilienz“ hin und erklärt, dass es sich dabei um eine „psychische Widerstandsfähigkeit einer Person gegenüber belastenden Lebenssituationen und besonderen Lebensereignissen“ handelt. Beethoven verfügte über eine ausgeprägte Resilienz und war in der Lage weiter zu komponieren, trotz seiner getrübten Gesundheit.

HNO-Experten sind der Meinung, dass Beethoven heute sicherlich angemessene Hilfe, das heißt ein modernes Hörgerät oder Implantat erhalten würde. Wie auch immer, der Hörverlust war nicht sein einziges Gesundheitsproblem. Er hatte Magen- und Darmstörungen und litt an Leberzirrhose, weil er zu viel Wein trank.

v.l.n.r.: Prof. Dr. med. h. c. mult. Wolfang, Holzgreve MBA, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikum Bonn (UKB), Prof. Dr. med. Dr. phil. Claudia Spahn, Leiterin des Freiburger Instituts für Musikermedizin und Prorektorin für Forschung an der Hochschule für Musik Freiburg, Malte Boecker, künstlerischer Geschäftsführer der Beethoven Jubiläums GmbH, Prof. Dr. med. Bernhard Richter, Leiter des Freiburger Instituts für Musikermedizin. (Bildquelle: Beethoven Jubiläums GmbH)

Mit unermüdlicher Neugier las ich den Essay von Eleonore Büning „Beethoven und die Politik“ über die Versuche von verschieden politischen Fraktionen in der Weltgeschichte, die „Ode an die Freude“ als ihre Hymne sich anzueignen. Ein ähnliches Schicksal ereilte seine „Eroica“.

Aber der dritte Teil der Studie erregte meine Begeisterung. Die Referenten versuchten die Frage zu beantworten, ob die „instrumentale“ Führung der Stimme in „Fidelio“, „Missa solemnis“ und dem Finale der Neunten auf Beethovens Hörschwierigkeiten zurückzuführen sei. Thomas Seedorf und Dirk Mürbe schildern Beethovens Übergang von der Schaffung der Lieder im Stil Cantabile zu dem dramatischen und ausdrucksstarken, der in seinen großformatigen Kompositionen spürbar ist. Besonders der Sopranpart ist dort sehr anspruchsvoll. Die Autoren widmen ihren Beitrag dem vor einem Jahr verstorbenen Peter Schreier, der unter anderem ein hervorragender Liedinterpret war und sich mit Beethovens vokaler Kammermusik auseinandersetzte. Matthias Echternach deutet darauf hin, dass Beethoven die Gesangsteile sehr akribisch komponierte und sich selbst fragte, ob dieses oder jenes Fragment gesungen werden kann.

Doch das am Ende zitierte Gespräch mit dem belgischen Dirigenten und Sänger René Jacobs, geführt von Bernhard Richter, zerstreut alle Zweifel. Jacobs behauptet, Beethovens Stücke wurden nicht „gegen“ die Stimme geschrieben; seine Werke seien zwar herausfordernd aber nicht unmöglich zu singen. Ein wichtiger Lehrer Beethovens war der Opernkomponist Antonio Salieri und der brachte ihm sicherlich bei, wie man vokale Partien schreiben sollte. Jacobs bezieht sich auf die Meinung von Wilhelm Weber, dem Autor der ersten Monografie zur „Missa solemnis“, der die hohe Lage der Soprane zu erklären versucht. Seiner Meinung nach habe dies eine theologische Grundlage und zeige die Entfernung zwischen Erde und Himmel (Gott).

Ich würde jedem Chor empfehlen, der sich auf ein Konzert mit der „Missa solemnis“ oder der Neunten vorbereitet, dieses Interview vorher zu lesen. Wenn man die Absichten des Komponisten besser versteht und über eine entsprechende Gesangstechnik verfügt, treten alle Schwierigkeiten in den Hintergrund und nur die Freude am Singen bleibt. Ich glaube, dass Beethovens Hörstörung mit Hilfe der heutigen Medizin hätte geheilt werden können, er hätte jedoch die Art seines Komponierens nicht geändert.

Alle Liebhaber von Beethovens Musik ermutige ich, den Inhalt der dort präsentierten Vorträge kennenzulernen. Jeder davon ist wertvoll, und ich bedauere, dass ich nicht in der Lage war, hier alle Autoren zu nennen. Ich hoffe nur, die Neugier der Leser geweckt zu haben.

Zum Schluss kommt eine Anekdote, die sich auf die jüngsten Ereignisse bezieht, als viele von uns die US-Präsidentschaftswahlen mit angehaltenem Atem beobachteten. Eleonore Büning bezieht sich in ihrem Essay „Beethoven und Politik“ auf das Konzert mit der Neunten in der Elbphilharmonie anlässlich der G20 im Jahr 2017. Im Publikum befand sich US-Präsident Donald Trump, dem es schwer fiel, 80 Minuten des Werks durchzusitzen. Er drehte sich um, rutschte auf dem Sitz, flüsterte mit seiner Gattin und applaudierte nach jedem der ersten drei Sätze der Sinfonie. Einige Journalisten beschrieben auf lustige Weise sein damaliges Benehmen. Danach erschien auf Twitter Trumps rhetorische Frage (obwohl es irgendwelche Zweifel an der Authentizität dieses Tweets gibt): „Why did Beethoven only put the choir in the end of Symphony No. 9? Could’ve been a contender. Bad attitude.”

No comments.

Jolanta Lada-Zielke, 15. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Ladas Klassikwelt 54: Ein Orgelpfeifchen mit Liebeskummer

Ladas Klassikwelt (c) erscheint jeden Montag.
Frau Lange hört zu (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Hauters Hauspost (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Sophies Welt (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag.
Lieses Klassikwelt (c) erscheint jeden Freitag.
Spelzhaus Spezial (c) erscheint jeden zweiten Samstag.
Der Schlauberger (c) erscheint jeden Samstag.
Ritterbands Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.
Posers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.

© Jolanta Lada-Zielke

Jolanta Lada-Zielke, 49, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre  journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA.  Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den Zwanzigern und Dreißigern. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert