von Jolanta Łada-Zielke
Viele von uns haben abenteuerliche Ausflüge erlebt. Ich reise am häufigsten auf relativ kurzer Strecke zwischen Deutschland und Polen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich gezwungen sein würde, auf dieser Route zu übernachten. Am vergangenen Freitag, 11. Juni, sollte ich von Krakau nach Hamburg mit Zwischenlandung in Warschau zurückfliegen und gegen Abend am Ziel sein, um das Eröffnungskonzert des 3. Chopin-Festivals sehen zu können. Zwar wurde die Veranstaltung online übertragen, aber ich hatte in Polen mein Smartphone als einzige Kontaktmöglichkeit mit Internet dabei. Am liebsten hätte ich gemütlich vor meinem Computerbildschirm gesessen und so wollte ich die Aufführung von Professor Hubert Rutkowski und Severin von Eckardstein, die Klavierduette spielen würden, genießen.
Leider war mir dies nicht vergönnt. Der Abflug nach Warschau verzögerte sich aufgrund eines technischen Defekts um mehr als drei Stunden. Infolge der Pandemie gibt es überall weniger Flüge und weniger Flugzeuge, sodass es nicht möglich war, die kaputte Maschine durch eine funktionsfähige zu ersetzen. Ich habe den Anschlussflug nach Hamburg verpasst und musste in dieser Nacht in Warschau bleiben. Also habe ich das Eröffnungskonzert doch auf dem kleinen Bildschirm meines Smartphones in einem Hotelzimmer am Frédéric-Chopin-Flughafen gesehen, in unserer Heimat und in der Stadt, mit der der Komponist verbunden war.
Ich hatte Glück, denn es gelang mir, die Übertragung in dem Moment mitzubekommen, als Professor Rutkowski, der Intendant des Festivals, die vor den Monitoren versammelten Gäste begrüßte. Dann sagte Severin von Eckardstein ein paar Worte zum Programm des Konzerts, das mit Mozarts Sonate D-Dur KV 448 (1781) begann. „Mozart hat den Startschuss für Piano-Duo-Literatur gegeben“, so van Eckardstein.
Professor Rutkowski und Severin ergänzten sich musikalisch in dieser Sonate perfekt. Sie spielten sie auf Shigheru Kawai-Flügeln mit dem Schwung, aber mit schöner Phrasierung, wie es sein sollte. Mozart klingt auf ihnen etwas weniger „spitz“ als auf älteren Instrumenten. Allegro con spirito war ein sehr guter Hintergrund für meine Betriebsamkeit im Hotelzimmer; gerade rechtzeitig, um das Nötigste aus dem Koffer für eine Nacht und den nächsten Morgen auszupacken. Amüsant, das Hotel, wo ich übernachtet habe, heißt „Renaissance“, und das vom Klavierduo aufgeführte Werk stammt aus der klassizistischen Zeit. Ich lief vom Bad ins Zimmer und zurück, aus dem Augenwinkel den kleinen Bildschirm betrachtend : Die Übertragung fand ich sehr gut, die Kamera bewegte sich so, dass man die Hände beider Pianisten sehen konnte. Erst während des zweiten Teils Andante setzte ich mich auf die Bettkante hin, um mich ein wenig zu entspannen.
Das zweite Stück war das Präludium „L’après midi d’un faune“ von Claude Debussy. Das Klavier imitierte die Flötenstimme, der Tritonus Cis-G war dort zu hören. Wogende Glissandi und halbtönige Passagen spiegelten die impressionistische Textur noch mehr wider. Die in harmonischem Sinne dichteren Fragmente hielten mich von dem Einschlafen ab. Nein, mir war überhaupt nicht langweilig! All die Müdigkeit und der Stress im Zusammenhang mit der Impfung, den Tests und schließlich der Unterbrechung meiner Reise kamen einfach gerade aus meinem Inneren heraus. Und die Musik war für mich eine Erleichterung.
Endlich war der Hauptheld des Abends oder besser gesagt des ganzen Festivals dran, nämlich Frédéric Chopin. Beide Herren führten sein 1828 komponiertes und posthum veröffentlichtes Rondo in C-Dur, Opus 73, auf. Sie verwendeten Tempo rubato, typisch für den Komponisten, obwohl das Stück an vielen Stellen tänzerisch klingt. Vorher hatte Severin es als „sehr elegantes Salonstück“ bezeichnet. Doch der Auftritt glich nicht einer jungen Dame aus gutem Hause, die darauf achtet, aufrecht an der Tastatur zu sitzen, um einen potenziellen Ehemann anzusprechen. Dies war ein echtes künstlerisches Fest, für das ich das Abendessen im Hotel ausgelassen habe. Jedenfalls fand ich später heraus, dass man dort nur zwei Sorten von Pierogi servierte, süß oder salzig. Während meines Aufenthaltes in Krakau esse ich hauptsächlich Pierogi, also hatte ich genug davon.
Das letzte Werk des Konzerts war die Suite Nr. 2 Op. 17 von Sergej Rachmaninow (1901). Auf die Introduction folgte die Valse – überhaupt nicht langsam, das Stück enthält Fragmente mit unterschiedlichen Stimmungen. Dann kommt die Romance – ein lyrischer Teil mit einer interessanten, polymetrischen Textur. Zum Schluss hörten wir eine turbulente Tarantelle. Beide Pianisten brachten das slawische Temperament dieses Stücks zum Vorschein. Das Arrangement dieses Konzerts war richtig; Chopins Musik klingt wirklich interessanter im Kontext der früheren und späteren Epochen.
Während ich diese Aufführung genossen habe, war ich erfreut, die Chat-Kommentare von Zuschauern aus Belgien und sogar Südafrika zu entdecken. Dies war ein weiterer Vorteil der Online-Übertragung der Veranstaltung. Am Ende verbeugten sich Professor Rutkowski und Severin vor dem unsichtbaren Publikum und jeder bekam eine rote Rose. Ich schloss mich dem virtuellen Applaus an.
Am nächsten Morgen am Flughafen, nach dem Einchecken, ging ich durch die Läden am Gate, in denen ein großer Teil des Sortiments mit dem Konterfei Frédéric Chopins oder mit Fragmenten der Partituren seiner Werke versehen sind. Durch meine verzögerte Rückkehr nach Hamburg habe ich mir auch andere Konzerte im Rahmen des Festivals mit Verspätung angesehen. Aber ihre Live-Stream-Aufnahmen sind immer noch auf der Homepage verfügbar, für alle Nachzügler oder Menschen mit ähnlichen Abenteuern wie ich.
https://www.chopin-festival.de/2021.php
Jolanta Łada-Zielke, 15. Juni 2021, für
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Jolanta Łada-Zielke, Jahrgang 1971, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.