Wie kommt man zur klassischen Musik, wenn die Eltern lieber James Last als Beethoven hören und man sich mit Deep Purple und Iggy Pop gegen diese Easy-Listening-Beschallung zur Wehr setzt? Durch einen bayerischen Kontratenor, der in New York mit David Bowie gearbeitet hatte. Und der leider viel zu früh starb.
von Gabriele Lange
Es geschah zu einer Zeit, als es kein ödes Formatradio gab, sondern man auf Bayern 3 noch aufregende Entdeckungen machen konnte: Es ist wohl Ende 1981, eher spät am Abend. Ich bereite gerade irgendwas für den nächsten Tag an der Uni vor. Das Radio läuft im Hintergrund. Da höre ich eine Stimme, die mich sofort fesselt. „What power art thou, who from below hast made me rise unwillingly and slow from beds of everlasting snow …”. Ich drehe rasch lauter – und kann diese hohe Stimme nicht einordnen. Ist das – eine Frau? Nein. Ein Mann?
Extrem langsam, intensiv – und so ein ungewohnter Rhythmus. Ich spüre klirrende Kälte – und tiefe Emotion. Der Sprecher hat den Namen des Sängers wohl vorher schon erwähnt (ja, damals lieferten noch kundige und oft begeisterte Moderatoren interessante Infos zu der Musik, die sie selbst auswählten). Als das kurze Stück zu Ende ist, sagt er etwas anderes an. Und ich bin fast verzweifelt. Ich muss wissen, wer das ist. Und ich muss die Aufnahme haben.
Dann singe ich das eben vor …
Am nächsten Tag marschiere ich in einen renommierten Plattenladen. Was macht man, wenn man nicht weiß, wer der/die Künstler*in ist, wenn man nicht mal die Musikrichtung einordnen kann? Man probiert es zunächst mit einer Beschreibung. Nützt in diesem Fall nichts. Also versuche ich, etwas annähernd Ähnliches zu singen: „Wha-ha-hat pow-ow-ower art…“ und ernte verständnislose Blicke. Ein Kollege wird geholt. Ich probiere es nochmal. Der Kollege strahlt – und bringt eine LP mit einem weiß geschminkten Mann auf dem Cover. Er trägt einen dreieckigen Plastiksmoking und erinnert mich seltsamerweise zugleich an den Mephisto von Gustaf Gründgens und an Stan Laurel. Die Scheibe wandert in den Plattenspieler und wir drei lauschen fasziniert dieser androgynen Stimme. Treffer! Klaus Nomi. Das ist ja mal ein spannender New-Wave-Typ.
Klaus Nomi – The Cold Song, 1981
https://www.youtube.com/watch?v=Uf6ViwumljY
Die Scheibe läuft ab sofort in Dauerrotation. Auch die anderen Stücke sind ungewöhnlich. Die eigensinnigen Versionen der Pop-Klassiker „The Twist“ und „You don’t own me“ brechen Hörgewohnheiten. „Samson and Delilah“ habe ich auch irgendwie anders in Erinnerung (und: Wer war nochmal Camille Saint-Saëns?). Die neuen Songs wie „Total Eclipse“ sind ein bisschen irre und sehr spannend. Aber völlig gefesselt bin ich von diesem „Cold Song“.
Wer war oder ist denn dieser „Henry Purcell“?
Heute würde ich mal schnell googeln, dann Youtube und Spotify anwerfen – schon wäre ich schlauer. Damals hieß es: Ab in die Bibliothek. Ein Barockkomponist? Im Musikunterricht waren irgendwann ein paar Noten von Bach und Händel vorbeigeflogen, lieblos von der resignierten Dauerwellendame in Tweedrock und Twinset angespielt. Hätte nicht gedacht, dass die Art Musik so cool klingen könnte. Noch mal zu den netten Jungs in den Plattenladen: Habt ihr was von diesem Purcell? King Arthur? Kann ich mir mal diese Arie anhören? Oh. Das ist ja ein Bass?! Irgendwie auch toll. Aber Nomi finde ich besser …
Kontratenor bei Thomas Gottschalk
Der in Bayern geborene Sänger mit der klassischen Gesangsausbildung verdiente sein Geld in New York als Konditor und trat in Undergroundclubs auf. Dort entdeckte ihn David Bowie und engagierte ihn als Backgroundsänger, was ihm ab 1979 zu einem Plattenvertrag und einigen Auftritten in Fernsehshows verhalf. 1981 erschien seine erste LP. Sie enthielt die Arie, die mich so fasziniert hatte. Im Jahr darauf lud ihn Thomas Gottschalk zu „Na sowas“ ein. Die Sendung war ein Kuriositätenkabinett und Nomi wurde als Kuriosum präsentiert: Ein Mann, der wie eine Frau singt!
Klaus Nomi bei Thomas Gottschalk, 1982
https://www.youtube.com/watch?v=wZceLGCWwWg
Es folgten noch ein paar Fernsehauftritte, eine kleine Tournee und eine weitere LP. Den zunehmenden Erfolg konnte der Sänger nicht mehr auskosten. Er war an Aids erkrankt und starb im Sommer 1983. Die letzte Platte erschien posthum.
Klaus Nomi hat die Grenzen zwischen Oper und modernem Pop aufgebrochen. Die Sparks hatten oft durchaus etwas Opernhaftes. Aber „This Town Ain’t Big Enough for Both of Us” ist eindeutig ein Rocksong – ebenso wie „Bohemian Rhapsody“ von The Queen, auch wenn die Band sich hier selbstbewusst bei der italienischen Oper bedient hatte (und Freddie Mercury eine Diva mit grandiosem Stimmumfang war). Rob Halford von Judas Priest konnte sich in schwindelnde Höhen hinaufschrauben – aber er klang eindeutig männlich und hatte mit Klassik nichts am Hut.
Nomi nahm sich die Freiheit, die die Sänger im Barock besaßen – sie konnten eine Arie an ein neues Umfeld anpassen. Er verwandelte die Bass-Partie des Cold Genius in eine Counter-Arie und unterlegte sie mit einem Synthesizerteppich. Er bewahrte dabei ihre Würde. Und das kann ich nur über wenige der Rock- oder Pop-Projekte von Opernsängern der letzten Jahrzehnte sagen, die mir zu Ohren gekommen sind …
Klaus Nomi erschloss mir und anderen die Schönheit dieser Musik. Sein „Cold Song“ war meine erste Begegnung mit einem Kontratenor. Und mit ihm begann meine Liebe zum Barock. Wie eine richtig gute, langlebige Beziehung entwickelte sich auch diese mit der Zeit. Es dauerte noch etliche Jahre, bis sie richtig aufblühte. Allerdings – musikalisch monogam bin ich bis heute nicht. Aber das war Nomi auch nicht.
Gabriele Lange, 26. November 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Die Münchnerin Gabriele Lange (Jahrgang 1960) war bei ihren ersten Begegnungen mit klassischer Musik nur mäßig beeindruckt. 1971 fand sie als Zauberflöten-Begleitung der Oma zwar den Papageno nett, die Königin der Nacht aber eher strapaziös. Als die lustlose Musiklehrerin die noch lustlosere Klasse in die „Carmen“ führte, wäre sie lieber zu Pink Floyd gegangen. Shakespeare hat sie dagegen sofort beeindruckt. Und dass Goethes Faust ziemlich sauer war, weil es in dieser Welt so viel zu erkunden gibt, man es aber nicht schafft, auch nur einen Bruchteil davon zu erfassen, leuchtete ihr ein. Sie startete dann erst mal ein Studium der Geschichte und politischen Wissenschaften. Die Magisterarbeit über die soziale Propaganda im Unterhaltungsspielfilm des „Dritten Reichs“ veröffentlichte sie als Buch. Bei der Recherche musste sie sich gelegentlich zurückhalten, um nicht die Stille im Archiv mit „Ich weiß, es wird einmal ein Wonderrrr geschehn“ von Zarah Leander zu unterbrechen, während sie sich durch die Jahrgänge des „Film-Kurier“ fräste. Ein paar Jahre zuvor wäre sie fast aus ihrer sechsten Vorstellung von Formans „Amadeus“ geflogen, weil sie mit einstimmte, als Mozart Salieri wieder die Sache mit dem „Confutatis“ erklärte. Bei der Rocky Horror Picture Show störte sich dagegen niemand an ihrem bescheidenen Gesangstalent. Die nächste berufliche Station war die Computerpresse. Da erlebte sie den Aufstieg des PCs zum Alltagsgegenstand und die Disruption durch den Siegeszug des Internets intensiv mit. Als Textchefin beschäftigte sie sich in diesen Jahren damit, das Wissen der Technik-Nerds verständlich aufzubereiten. Nachdem die schöpferische Zerstörung auch die PC-Magazine erfasst hatte, übernahm sie eine ähnliche Übersetzerfunktion als Pressebeauftragte sowie textendes Multifunktionswerkzeug in der Finanzbranche. Vier Wochen darauf ging Lehman pleite. Für Erklärungsbedarf und Entertainment war also reichlich gesorgt. Heute arbeitet sie als freie Journalistin. Unter anderem verfasste sie für Brockhaus einen Online-Kurs für Lehrer zum Thema Medienkompetenz. Musikalisch mag sie sich auch nicht festlegen. Die Liebe zur klassischen Musik ist über die Jahre gewachsen, die Beziehung entwickelt sich stetig fort. Barockmusik ist ihr heilig, Kontratenöre sind ihre Helden – aber es gibt noch so viel anderes zu entdecken. Deshalb trifft man sie etwa auch bei Konzerten finnischer Humppa-Bands, auf Blues-Abenden, bei einem bayerischen Hoagascht und – ausgerüstet mit Musiker-Gehörschutz – auf Metal- oder Punkkonzerten. Gabriele ist seit 2019 Autorin für klassik-begeistert.de.
Bis heute ist mir die Coldsong-Version von Klaus Nomini die liebste. Die einzige, die mir ähnlich gut gefällt, ist die von Andreas Scholl. Als ich Nomi zum erstmal hörte, war ich schon lange Opernliebhaber (ich bin Jahrgang 1944). Trotzdem war diese Platte ein richtiger Schock für mich, der noch heute wirkt. Countertenöre sind wunderbar, und inzwischen gibt es so viele und so unterschiedliche – allen voran der grossartige Franco Fagioli. Ich finde es gut, wenn man nicht nur Oper und klassische Musik hört, sondern auch offen für andere Musikbereiche bleibt (Rock, Pop, Folklore). Da kann man soviel entdecken.
Ihr Artikel hat mir wirklich aus dem Herzen gesprochen – haben Sie vielen Dank.
Henning Beil