Camilla Nylund © Natasha Orrell
Auch als Lied-Interpretin verzaubert die Richard-Strauss-Königin Camilla Nylund die Berliner Lindenoper. Dieser Liederabend stand der am Vortag fegenden Nabucco-Premiere musikalisch um nichts nach!
Camilla Nylund, Sopran
Helmut Deutsch, Klavier
Lieder von Erich Wolfgang Korngold, Alexander Zemlinsky, Armas Järnefelt, Alban Berg, Gustav Mahler und Richard Strauss
Staatsoper Unter den Linden, Berlin, 3. Oktober 2024
von Johannes Karl Fischer
Erst am Vortag testete auch das Publikum die akustischen Grenzen der Lindenoper, als das ganze Haus nach Anna Netrebkos Abigaille-Arie in beispiellose Bravos regelrecht explodierte. Künstlerisch stand der Liederabend am Tag der deutschen Einheit von Camilla Nylund Frau Netrebkos Leistung um nichts nach, nur das Publikum reagierte unverdienterweise deutlich gelassener. Naja, in der Oper geht eben doch viel um den weltlautesten Fanclub.
Ja, Anna Netrebko ist ein Phänomen. Und ein Liederabend zieht einfach auch weniger als eine szenische Saisoneröffnungspremiere. Aber Camilla Nylunds Stimme klingt ebenfalls atemberaubend, sie saugt einen in die langen Melodien eines Mahlers oder Strauss. Vielleicht nicht so kraftaktmäßig spektakulär wie Frau Netrebko, aber bitte, seit wann ist denn Oper ein Wettbewerb um die weltlautesten Spitzentöne? Hier gilt’s der Kunst… und der Musik!
Insbesondere mit ihrer Darbietung der vier Lieder op. 27 von Richard Strauss erwies sich Frau Nylund wieder einmal als krönende Kaiserin des Münchner Spätromantikers. Mit ihrem runden, sanften Sopran-Gesang strömten die scheinbar endlosen Melodien in den Saal, ihre stimmliche Sonne strahlte hell und streichelte sanft die Ohren des Publikums. Auch in den beiden Strauss’schen Zugaben ließ sie das Publikum die Noten regelrecht trinken. Heilig das Ohr ans Lied ihr sank, habe Dank!
Ganz in der eigenen Welt schwebten auch Mahlers Rückert-Lieder. Mit viel Liebe zur Musik und hier deutlich länger gezogenen Melodien zauberte Frau Nylund die ganze Magie des Mahler-Klangs ohne den für ihn so typischen 100-köpfigen Orchesterapparat in den Saal. Als stünden die Engel aus der dritten Sinfonie auf der Bühne, einen süßen Gesang singend und ihre musikalische Magie in einer seelischen Stimme entfaltend.
Als deutlicher Kontrast zu diesen seelenreinigenden Strauss und Mahler-Liedern waren vor der Pause die sieben frühen Lieder von Alban Berg zu hören. Per se eine nicht unbedingt ästhetisch schöne Musik – hat Berg auch nicht so beabsichtigt. Doch segelte auch hier Frau Nylunds Stimme völlig mühelos über alle Dissonanzen, die musikalischen Infusionen an leicht beunruhigten Klängen webte sie völlig natürlich in die Musik ein. Nun ja, die Welt ist eben nicht immer so heilig ans Herz sinkend wie Strauss’ Lieder… Hier glänzte auch die Klavierbegleitung von Helmut Deutsch, diese hochsensible Musik zauberte er fein und doch prägnant in die Tasten.
Begonnen hatte der Abend mit Liedern von Erich Wolfgang Korngold, Alexander Zemlinsky und Armas Järnefelt. Mit viel Feingespür und feingeputzten Noten servierten Sopranistin und Pianist hier die perfekte musikalische Vorspeise vor den deftigeren Berg- und Mahler-Klängen. Frau Nylund präsentierte auch diese im Vergleich zum restlichen Programm weniger bekannten Lieder mit leichtem, doch vollem Ausdruck und brachte diese Musik deutlich aus dem Schatten der Komponisten-Riesen Mahler und Strauss!
Nach der heftigen, fast überwältigenden Wucht der am Vortag fegenden Nabucco-Premiere war dieser Liederabend eine wohltuende musikalische Entspannung für die Seele. Der deutlich stürmischere Kartenandrang auf alle Netrebko-Nabuccos ist angesichts der vergleichbaren musikalischen Leistung nicht nachvollziehbar. Für die kommende Frau ohne Schatten mit der Richard-Strauss-Kaiserin Camilla Nylund gibt es im übrigen auch noch Karten!
Johannes Karl Fischer, 6. Oktober 2024 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Interview mit Camilla Nylund von Johannes Karl Fischer klassik-begeistert.de, 2. Oktober 2023
Liederabend Camilla Nylund / Helmut Deutsch am 15. Juni 2020 Wiener Staatsoper
Und was hat die (laute) Sopranistin Anna Netrebko vom Vorabend mit einer sensiblen Liedinterpretation zu tun?
Waltraud Becker
Liebe Frau Becker,
Der Liederabend war, trotz deutlich geringer Kartenpreise als die Nabucco-Premiere, nicht einmal ausverkauft. Das ist schon ein großer Kontrast, wenn man diese Aufführungen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mitkriegt; bei Frau Netrebko sind die Leute froh, überhaupt drin zu sein und entsprechend war die Stimmung aus dem Häuschen, bei Frau Nylunds Liederabend buhlen sich eher die Karten um die Zuschauer.
Natürlich hat eine Premiere mit Anna Netrebko etwas Spektakuläres, was kein Liederabend dieser Welt erreichen kann. Trotzdem haben — finde ich — beide Sopranistinnen künstlerisch Ähnliches geliefert und ernteten doch sehr unterschiedliche Stimmungen. Ein Jammer, dass viele Leute anscheinend immer noch große Namen und nicht große Kunst feiern. Die Premiere war anders, wahrscheinlich auch spektakulärer, aber keinesfalls besser als Frau Nylunds Liederabend.
Freundliche Grüße
Johannes Fischer