von Kirsten Liese
In Krisenzeiten ist der Hunger auf Kultur groß. Manche Ältere unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an die langen Schlangen vor den Kinos oder dem Berliner Titania Palast nach Kriegsende – Bilder, die für mich Geschichte sind, ich kenne sie zum Glück nur aus alten Wochenschauen. In heutigen Zeiten des Ausnahmezustands belegt das große Interesse an den vielfach angebotenen Streaming-Angeboten von Opernhäusern und Konzertveranstaltern nicht minder die Bedeutung von Musik als Seelen- und Nervennahrung. Manchmal entfaltet sie sogar Heilkräfte, die an ein Wunder grenzen. Von solchen Fällen will ich heute anhand dreier außergewöhnlicher Künstler-Persönlichkeiten erzählen.
Den Anfang macht die Pianistin Martha Argerich, die Corona nun zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt aus ihrer Konzerttätigkeit reißt. Noch kurz bevor in den vergangenen Tagen nach und nach alle Konzertsäle und Opernhäuser in Berlin ihre temporären Schließungen bekannt gaben, präsentierte sich die 78-Jährige so fit wie je zuvor, spielte als Solistin der Berliner Staatskapelle unter Zubin Mehta Ravels Klavierkonzert, begleitete den Geiger Guy Braunstein bei seinem Debütabend im Pierre Boulez Saal, und wenige Monate zuvor Gidon Kremer anlässlich seines siebzigsten Geburtstags bei einem Kammermusikabend im Konzerthaus. Die gesteigerte Aktivität der Künstlerin, die sich ohne die Epidemie in den kommenden Monaten so fortgesetzt hätte, erscheint keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil: In den 1990er Jahren sagte Argerich fast alle Konzerte ab. Ich schrieb damals für mehrere Regionalzeitungen im Rhein-Main-Gebiet und kann mich noch gut an all die Zitterpartien erinnern. Von Mal zu Mal, wenn sie wieder für einen Abend in der Alten Oper plakatiert war, schöpfte man weniger Hoffnung, eine Absage schien so gut wie sicher. Der Grund: Die Pianistin litt an schweren Depressionen.
Immerhin hat die Musik sie aber am Leben erhalten und mehr als das: Die starke Raucherin Argerich erkrankte irgendwann an Lungenkrebs und musste sich einer schweren Operation unterziehen. Davon erfuhr ich über den Dokumentarfilm Argerich, der 2014 in die Kinos kam. Wenn ich mich richtig erinnere, lebt die Pianistin seither mit nur einem Lungenflügel. Und das nun schon seit sechs Jahren (!) und mit einer anhaltenden Kraft an den Tasten, die einfach Staunen macht.
Dass die Musik sagenhafte Energien freizusetzen vermag, formulierte ganz explizit so Claudio Abbado. Der einstige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker erreichte nach einer Magenkrebsoperation sogar den Zenit seiner Laufbahn. Für ihn war die Musik wahrlich ein Elixier. Entsprechend gönnte er sich auch den Luxus, nur noch mit seinen Freunden zu musizieren, vorzugsweise beim Luzern Festival.
Ich hatte das Glück, Abbados unvergessene Sternstunden in Luzern zehn Jahre lang bis zu seinem Tod mitzuerleben. Dabei berührten mich nicht nur die transzendenten Mahler-Interpretationen, die ihm seinen Nimbus eintrugen, sondern auch seine späte Annäherung an Bruckner, dessen 9. Sinfonie er auf seinem allerletzten Konzert dirigierte. Ein Mitschnitt dieses Abends ist unlängst bei Accentus erschienen. Die Aufnahme offenbart den späten, luziden transzendenten Musizierstil eines Künstlers, der mit einem Bein schon im Jenseits zu stehen- und seine Krebserkrankung über lange Zeit mit der Musik zu besiegen schien.
Die dritte außergewöhnliche Biografie, an der sich das Phänomen der Musik als einer Heilkraft erweist, führt ebenfalls in die Schweiz. Die Rede ist von der Sopranistin Maria Stader, in deren Leben ich mich im vergangenen Jahr anlässlich einer Sendung zu ihrem 20. Todestag vertiefte.
Stader, 1911 in Budapest geboren, kam wegen großer Armut und Hungersnot in ihrer Familie im Alter von acht Jahren als Ferienkind in die Schweiz. Dort kümmerten sich nacheinander mehrere Pflegefamilien an unterschiedlichen Orten um sie, denn nur für begrenzte Zeit durfte sie jeweils in einem Kanton bleiben. Bei den wohlhabenden Staders in Romanshorn am Bodensee hatte sie ihre letzte Station. Aber nun geschah etwas, was mir sehr grausam erscheint: Um der kleinen Maria die Rückkehr nach Ungarn zu ersparen, adoptierten die Staders das Mädchen, deren leibliche Eltern zu dem Zeitpunkt aber beide noch lebten.
Verständlicherweise wollten die leiblichen Eltern ihre Tochter trotz weiterer Kinder nicht hergeben. Sie hatten Maria nicht misshandelt, wollten sie nicht verstoßen, sie waren einfach nur arm. Ich habe zahlreiche Quellen studiert, um mich zu vergewissern, dass sich das wirklich so zugetragen hat. Ich wollte es einfach nicht glauben. Und was mich nicht minder verwunderte: Nicht einer der vielen Journalisten, die Stader später interviewten, bohrte nach, welche Spuren dieses Trauma bei ihr hinterlassen hatte.
Maria Stader selbst hat stets nur positiv über ihre Adoptiveltern gesprochen und das Trauma – da sind wir wieder bei der Musik als Heilkraft – gut verdrängt. Denn darin lag ihre große Chance: Die Adoptiveltern ermöglichten ihr eine Gesangsausbildung, die die leiblichen Eltern in Ungarn niemals hätten finanzieren können. In Interview hat sich die Sängerin darüber stets sehr dankbar geäußert, aber auch anklingen lassen, dass ihre leiblichen Eltern sie nicht hergeben wollten und es zu großen Streitigkeiten kam, die damit endeten, dass die leiblichen Eltern schließlich schweren Herzens nachgaben. Aber bezeichnenderweise starb der Vater wenig später. Mit ihrer Mutter hatte Maria Stader im Erwachsenenalter wieder etwas Kontakt.
Ob eine vergleichbare Adoption in heutigen Zeiten, wo wir für Traumatisierungen jeglicher Art eine starke Sensibilität ausgeprägt haben, noch denkbar wäre? Und was wohl Maria Stader heute dazu sagen würde, wenn sie noch leben- und ich die Chance haben könnte, sie zu fragen?
Eigentlich seltsam, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, diese Biografie zu verfilmen, zumal sich in ihr noch zahlreiche weitere außergewöhnliche Episoden finden und es eine Frau mit liebenswerten, heute rar gewordenen Wesenszügen zu erleben gilt, zu denen Disziplin, Bescheidenheit, Demut und Uneitelkeit gehören.
Der unverkennbar helle, strahlende, luzide Sopran lässt jedenfalls von den Abgründen in diesem Leben nichts ahnen. .
Besonders mit ihren Bach- und Mozartinterpretationen machte sich Maria Stader einen Namen, und auch das spricht für sich, geht doch von vielen Werken dieser Komponisten eine positive Energie aus.
Am berühmtesten unter all ihren Interpretationen war Mozarts Exultate jubilate , aber am meisten innerhalb von Staders diskographischem Vermächtnis berührt mich die Arie „Diese Auen sind seligem Frieden“ aus Glucks Musikdrama Orpheus und Eurydike.
Gleich höre ich mir die Aufnahme noch einmal an, die alles bündelt, was man in diesen Zeiten gut gebrauchen kann: Zuversicht, Hoffnung und Trost.
Kirsten Liese, 20. März 2020, für
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