Foto: © Internationale Händel-Festspiele Göttingen
„Unter dem warmen Schein echter Kerzen und Dekorationen malerischer Landschaftsbilder à la Watteau verwandelte die Regisseurin Sigrid T’Hooft das Göttinger Theater in ein barockes Opernhaus. In prächtigen Roben und stark gepudert bewegten die Sängerinnern und Sänger anmutig ihre Arme wie es zu Händels Zeiten üblich war.“
von Kirsten Liese
Die Göttinger Händelfestspiele haben seit Jahren einen festen Platz in meinem Terminkalender. Das hat mit der genialen Musik zu tun, mit der exquisiten musikalischen Einstudierung, derer man sich an diesem Ort gewiss sein kann und einem überwiegend guten Geschmack, was die Inszenierungen betrifft.
Umso mehr schmerzt es mich, dass ausgerechnet die diesjährige Ausgabe zum 100-jährigen Bestehen Corona zum Opfer fällt, die eine ganz besondere werden sollte: Alle sämtliche 42 (!) Opern waren erstmals in der Geschichte dieses Festivals in unterschiedlichen Formaten anberaumt – ein gigantisches Vorhaben. Am 20. Mai sollte Rodelinda den Auftakt geben.
Das gleiche Schicksal trifft die Händelfestspiele Halle, die kurze Zeit später gefolgt wären.
Da muss man schon von großem Glück sagen, dass Deutschland mit drei Händelfestspielen gesegnet ist. So kamen wir vor wenigen Monaten immerhin in den Genuss der Händelfestspiele Karlsruhe, die sich traditionell um den Geburtstag des Komponisten am 23. Februar ranken und mithin glücklicherweise gerade noch dem Lockdown entgingen.
Ich finde zwar das Staatstheater in Karlsruhe architektonisch nicht besonders schön, schon gar nicht gemessen an dem kleinen Logentheater in Göttingen oder dem noch entzückenderen historischen Goethe-Theater in Bad Lauchstädt. Aber die Produktionen, die ich an diesem Ort bislang sah – zuletzt den Tolomeo mit dem trefflichen Countertenor Jakub Józef Orliński – haben mich selten enttäuscht.
Es wird Zeit, dass ich in dem Kontext endlich einmal über meine Liebe zur Alten Musik und zur Barockoper schreibe. Händel ist für mich einer der Komponisten, dessen affektreiche herrliche Musik ich zu jeder Zeit hören kann und die mich seelisch aufbaut. Und wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum es in Deutschland gleich an drei Orten Händelfestspiele gibt: Weil wir es hier mit einem Komponisten zu tun haben, der alle anspricht, auch klassikferne Leute, insbesondere mit populären Stücken wie der Feuerwerks- oder der Wassermusik oder dem Halleluja aus dem Messias, wie Tobias Wolff, Leiter der Göttinger Händelfestspiele, treffend sagt.
Wie Recht er hat, konnte ich an der Reaktion einer Toningenieurin erleben, die mir einmal für eine längere Sendung über die Sängerin Joyce DiDonato technisch zur Seite stand. Die berührende, berühmte Arie „Lascia ch‘io pianga“, die sie zuvor noch nie gehört hatte, ging der Frau so ans Herz, dass sie sich die Aufnahme kopierte, unzählige Male anhörte und als Rufzeichen auf ihr iphone speicherte.
Und noch ein anderer Grund mag vielleicht das große Interesse an Händel erklären: In seinem großen Oeuvre lassen sich noch zahlreiche Werke entdecken, allen voran eine Fülle an Pasticcios, die kaum bekannt sind. Insbesondere Halle, wo Händel 1685 geboren wurde, macht sich für solche „musikalischen Pasteten“, in denen der Komponist Rezitative, Arien, Chöre und Ritornelle aus anderen Stücken neu arrangiert, stark. Unweigerlich wandelt man dort zwischen Händelhaus und Marktkirche, wo der Meister getauft wurde, auf dessen Fußspuren.
Die schönste Produktion, die ich in Göttingen erlebte, war die ebenfalls wenig bekannte Oper Imeneo in einer Inszenierung von Sigrid T’Hooft. Die belgische Regisseurin zählt zu den profiliertesten auf dem Gebiet der szenisch historisch informierten Aufführungspraxis, orientiert sich mithin stilsicher an Regeln der historischen Schauspielkunst. Unsinnige, überflüssige Aktionen auf hässlichen Betonbühnen mit spartanischen Requisiten stehen bei ihr nicht zu befürchten. Unter dem warmen Schein echter Kerzen und Dekorationen malerischer Landschaftsbilder à la Watteau verwandelte sie vielmehr das Göttinger Theater in ein barockes Opernhaus. In prächtigen Roben und stark gepudert bewegten die Sängerinnern und Sänger anmutig ihre Arme wie es zu Händels Zeiten üblich war.
Wie schön, dass von der unvergessenen exzellenten Produktion ein Video existiert. Zwar insgesamt gerade etwas übersättigt an Online-Streams, werde ich mir diesen bestimmt ansehen.
Kirsten Liese, 15. Mai 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Tipp: NDR-Kultur stellt derzeit zehn Händel-Opern im Stream bereit (abrufbar bis 30. September 2020): Zum Stream bei NDR Kultur
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .