Foto: Anna Netrebko, Semperoper Dresden (c), „Don Carlo“
von Kirsten Liese
Ich habe Anna Netrebkos konzertantes Rollendebüt als Elisabetta im Don Carlo leider verpasst. Die vier Aufführungen überschnitten sich mit einem anderen bedeutenden Musikereignis, dem ich den Vorzug gegeben hatte, dem ersten Konzert nach dem Lockdown in Italien unter Riccardo Muti.
Wie wohl Verdis Musikdrama in Dresden auf 90 Minuten mit einem Kleinorchester von nur acht Musikern geklappt wurde, wäre ich gerne dabei gewesen, weil ich nicht daran zweifle, dass die Sopranistin einen so grandiosen Auftritt hingelegt hat, wie Kritiker es ihr rundum bescheinigten. Zum Glück hatte ich in den vergangenen Jahren mehrere Gelegenheiten, sie zu hören und mich von der erfolgreichen enormen Entwicklung dieser Stimme ins dramatische Fach zu überzeugen.
Meine Lieblings-Elisabetta unter allen Sängerinnen, die ich in der Partie in unzähligen Aufführungen auf der Bühne erlebt habe, ist Mirella Freni. Ich sah sie in dieser Rolle in einer unvergessenen Produktion von Herbert von Karajan 1976 in Salzburg, die zum Schönsten gehört, was ich überhaupt jemals auf einer Opernbühne gesehen habe. Ihr warmes Timbre erschien wie prädestiniert für die beiden Arien dieser Partie und ihre herrschaftlichen herrlichen Roben in dieser imposanten Inszenierung mit Kostümen und Dekors aus dem 16. Jahrhundert habe ich noch bestens vor Augen. Wiewohl – meines Erachtens zu Unrecht – von der Kritik immer wieder für seine Regie gescholten, besaß Karajan ein gutes künstlerisches Gespür für eine eindrucksvolle Optik, wie sie die riesige Bühne im Großen Festspielhaus nun mal erfordert. Im zweiten Akt schaute man auf eine pittoresk anmutende Szenerie mit einem Springbrunnen, es traten auch Hunde und Pferde auf.
Alle übrigen Partien waren ebenso grandios besetzt. Ich sage nur: Nicolai Ghiaurov als König Philipp, bis heute unübertroffen in seiner großen Arie „Ella giammai m’amo“, Fiorenza Cossotto als Eboli, verdient mit einem knapp zehnminütigen Szenenapplaus vom Publikum für ihr „O don fatale“ gewürdigt, Piero Cappuccilli als umwerfender Posa und José Carreras als Carlo. Nicht zu vergessen der phänomenale Jules Bastin als furchteinflößender Großinquisitor und die damals noch sehr junge Edita Gruberova in so einer kleinen Partie wie dem Pagen Tebaldo.
Im Nachhinein bin ich richtig dankbar, dass sich Carreras damals für die Titelpartie nicht zu schade war. Von Piotr Beczala, einem der besten Tenöre unserer heutigen Zeit, weiß ich, dass der Carlo für Tenöre eher eine undankbare Partie ist, weil sie gegenüber allen anderen Hauptfiguren in dieser Oper den Kürzeren zieht. Wenn ich so darüber nachdenke, muss ich ihm zustimmen, eine vergleichbar tolle Arie wie Philipp, Eboli, Elisabetta oder Posa schrieb Verdi ihm nicht in die Kehle, was damit zu tun haben mag, dass der Carlo im Libretto keine interessante Figur hergibt. Die Konflikte zwischen ihm und seinem Vater erscheinen weniger elaboriert als in Friedrich Schillers Drama.
Wäre ja interessant zu wissen, wie Yusuf Eyvazof das beurteilt, aber wenn er mit seiner Ehefrau Netrebko zusammen als Liebespaar auftreten kann, ist das natürlich nochmal etwas anderes.
Karajan brachte damals die vieraktige italienische Fassung, die ich bis heute der fünfaktigen französischen mit dem Fontainebleau-Akt, die in jüngerer Zeit häufiger gegeben wurde, vorziehe. So wichtig die Vorgeschichte von Elisabetta und dem Infanten Carlo auch ist, die davon erzählt, wie die beiden sich kennen und lieben lernen, aber doch kein Paar werden können, weil Elisabeth aus diplomatischen Gründen Carlos Vater heiraten muss, überzeugt mich die französische Sprache in dieser ganz und gar italienischen Oper nicht.
In der Dresdner Produktion war zur geplanten, aber wegen Corona abgesagten Premiere bei den Salzburger Osterfestspielen eine noch ganz andere Fassung geplant: die italienische vieraktige mit einem zusätzlichen Auftragswerk von Manfred Trojahn als Prolog. Ich halte das für eine Schnapsidee und bin ganz froh, dass es dazu nicht gekommen ist, da ich mir schlecht vorstellen kann, wie sich Verdis Musik organisch an ein Stück zeitgenössischer Musik anschließen soll. Für den scheidenden Intendanten Peter Ruzicka mag das wichtig gewesen sein, um sich mit seiner Handschrift für die Neue Musik noch einmal zu profilieren. Aber für die szenische verschobene Premiere in Dresden wünsche ich mir doch eine Fassung ohne diese Zutat.
Lieses Klassikwelt 40: Kürzungen oder wer nichts gewagt, der nicht gewinnt
Kirsten Liese, 26. Juni 2020, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .