von Kirsten Liese
Fotos: drottningholms-slottsteater (c)
Ich möchte Sie heute an einen besonders schönen Ort führen, in dem ich im vergangenen Jahr gerade noch rechtzeitig ohne Einschränkungen eine Aufführung erleben konnte: das schwedische Barocktheater Drottningholm.
Ich habe darüber auch gerade eine Sendung gemacht, die am Freitagabend um 22:05 Uhr im Musikfeuilleton von Deutschlandfunk Kultur ausgestrahlt wurde.
Das Theater liegt idyllisch am Rande einer weitläufigen barocken Parklandschaft dicht am Wasser und hebt sich von allen anderen europäischen Barocktheatern, zu denen etwa auch das bezaubernde Goethe-Theater in Bad Lauchstädt, das Gothaer Ekhof-Theater, das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth, das Rokokotheater in Schwetzingen oder das Schlosstheater Versailles gehören, mit seiner original erhaltenen Bühnenmaschine aus dem 18. Jahrhundert ab.
Ein märchenhafter Anblick auf das Areal bietet sich Besuchern schon bei der Anreise zu Schiff. Drottningholm liegt nur 15 Kilometer westlich von Stockholm auf einer der Inseln des Mälar-Sees. Von dem Anlegesteg sind es nur wenige Meter zu Fuß zur Schlossanlage.
Seit dem 17. Jahrhundert haben schwedische Monarchinnen hier ihren Sommer verbracht, und auch die heutige Königin Sylvia geht ab und an im Park mit ihren Hunden spazieren.
Die belgische Regisseurin Sigrid T’Hooft hat mir in einem unserer Interviews mal gesagt, in einem barocken Opernhaus zu wirken, ist „wie nach Hause kommen“. Ich fühle mich als Zuschauerin gleichfalls besonders wohl an einem solchen Ort, vor allem dann, wenn auch auf der Bühne eine Aufführung geboten wird, die sich an die Opulenz, Pracht und Ästhetik der damaligen Zeit anlehnt. Die belgische Regisseurin Sigrid T’Hooft ist darauf besonders versiert, sie hat nach alten Schauspielbüchern die Gesten studiert, die im 17. und 18. Jahrhundert gebräuchlich waren und kreiert mit ihrem Team Dekorationen, die einem eine Vorstellung davon geben, wie es damals ausgesehen haben mag.
Das Schlosstheater Drottningholm wurde 1766 erbaut und verbindet sich unweigerlich mit einem Stück preußischer Geschichte, war es doch die als charmant und hübsch beschriebene Ulrike Louise, eine von fünf Töchtern Friedrichs I. und eine kulturbeflissene, gebildete Frau mit einer besonderen Vorliebe für die Schauspielkunst noch dazu, die den Bau des Theaters vorantrieb, nachdem das frühere, kleinere Theater im Park abgebrannt war. Lovisa Ulrika nannten sie die Schweden, ihr Sohn, Gustaf III. übernahm nach dem Tod seines Vaters Adolf Fredrik 1771 die Leitung des Theaters. Unter ihm soll das königliche Schlosstheater seine erfolgreichste Zeit erlebt haben, dies auch deshalb, weil er die schwedische Sprache auf der Bühne einführte, auf der zuvor nur Aufführungen in Französisch stattfanden. Nicht nur Schauspiel, sondern auch Oper stand damals schon auf dem Programm, und zwar überwiegend Musikdramen von Christoph Willibald Gluck, dessen Musik Gustaf III. besonders liebte.
Die Bühnenmaschine ermöglicht in Sekundenschnelle einen Kulissenwechsel auf der Bühne. Eine zentrale Drehspindel in der Unterbühne setzt ihn in Gang. Auf jeder Seite der Bühne werden sechs Kulissen eingezogen und gleichzeitig neue eingefahren. Eine Besonderheit des Drottningholmer Modells ist die seltene vertikale Antriebsachse. Alle anderen bekannten Bühnenmaschinerien dieser Zeit verfügten über horizontale Antriebsachsen, die sogenannten Wellbäume. Schlossbaumeister Georg Fröman, der 1755 auf einer Europarundreise Pläne des Dresdner Maschinisten Christian Gottlob Reuss für dieses Modell mitgebracht hatte, erkannte offenbar die Vorteile dieser Technik, die sich mit dem Gangspill auf einem Segelschiff vergleichen lässt.
Bei der Führung durch das Theater erstaunte es mich zudem, dass an diesem Ort offenbar nicht nur gearbeitet, sondern auch gelebt wurde. In den Foyers und in der oberen Etage finden sich jedenfalls Wohn- und Schlafräume.
Und nun stellen Sie sich das vor: In einem der Zimmer soll es tatsächlich spuken! Im Kino habe ich ja so manche Thriller und Horrorfilme gesehen, in denen seltsame Dinge in verlassenen Häusern vor sich gehen, aber das war natürlich alles frei erfunden und reine Fiktion. Aber nun in einem barocken Theater und in echt? Dass mir eine Gästeführerin sagen würde, sie macht die Kammer eines Spuks wegen nicht auf, das habe ich wirklich zum ersten Mal erlebt. Und es sah so aus, als ob die junge Frau mich keineswegs auf den Arm nahm. Auf meine Nachfragen konnte ich dann die Hintergründe erfahren. Die Geschichte geht ins Jahr 1764 zurück, als Frauen für den Bau des neuen Theaters schwere Holzplanken transportierten. Während der Arbeiten soll ein Feuer ausgebrochen sein, in dessen Flammen eine der Helferinnen ums Leben kam. Karin. Fortan soll ihr Geist diesen Ort nicht mehr verlassen – und das Zimmer okkupiert haben. Was bedeutet das konkret? Karin kann offenbar sehr zornig werden, besonders dann, wenn man ihren Raum betritt, ohne mindestens drei Mal vorher anzuklopfen. Dann geschieht es, dass am Abend bei der Vorstellung etwas schief läuft, meistens kommt es zu Komplikationen mit der Bühnenmaschine. Bei alledem soll in Karins Bett angeblich immer wieder ein merkwürdiger Abdruck von einem Körper zum Vorschein kommen. Wohl schon mehrfach wurde die Decke wieder glatt gestrichen, aber bei der nächsten Sichtung soll die kleine Delle wieder da gewesen sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das alles glauben soll, aber ein bisschen mulmig wird mir doch zumute.
Das ist nicht die einzige Schauergeschichte des Drottningholmer Barocktheaters. 1792 fiel König Gustaf III. in der Stockholmer Oper einem Attentat zum Opfer. Mit seinem Tod endete die Blütezeit des schwedischen Theaters und damit auch des Schlosstheaters, das für mehr als 100 Jahre in Vergessenheit geraten sollte. Erst im Spätwinter 1921 wurde das fast unberührt gebliebene Theater wiederentdeckt.
Bei der Besichtigung des schlichten, aber doch sehr eleganten Zuschauersaals hatte ich abermals cineastische Assoziationen. Die sogenannten Kavaliers- und Inkognitologen, von denen man die Bühne schlecht oder gar nicht sehen kann, erinnern mich unweigerlich an Choderlos Laclos‘ mehrfach verfilmten Briefroman „Les Liaisons dangereuses“ (Gefährliche Liebschaften) und die Adaption von Stephen Frears mit Glenn Close, John Malkovich und Michelle Pfeiffer. Diese Logen waren nur dazu da, untereinander Kontakt aufzunehmen. Junge, unverheiratete Männer kamen, um nach Frauen im Publikum Ausschau zu halten, die ihrerseits mit unterschiedlichen Bewegungen ihrer Fächer andeuteten, ob sie an einem Techtelmechtel interessiert waren. Aber auch Witwen und Männer in Begleitung von Mätressen nutzten diese Logen. Wie sagt doch Glenn Close im Film in einer Szene, als sie in ihre Loge der kleinen unbedarften Cécile Volanges den Chevalier Danceny vorstellt: „Monsieur Danceny ist einer der wenigen Exoten, die ganz allein der Musik wegen ins Theater kommen“.
Die Aufführung, die ich im vergangenen Jahr in Drottningholm sah, Händels Musikdrama Ariodante , war musikalisch sehr gelungen, dies auch dank der wunderbaren Mezzosopranistin Ann Hallenberg in der Titelpartie. Der Versuch der Regisseurin Nicola Raab, die Geschichte einer durch Intrigen hart geprüften Liebe als Zeitreise vom Barock in die Gegenwart zu erzählen, überzeugte mich allerdings nur partiell. Eine Inszenierung von Sigrid T’Hooft hätte mir vermutlich besser gefallen, hoffentlich bekomme ich an diesem Ort nochmal eine solche zu sehen.
Weil es im Theater in den Wintermonaten sehr kalt ist, wird es nur im Sommer mit jeweils maximal zwei Produktionen bespielt.
Wiewohl Schweden Corona stoisch ohne Lockdown trotzte, fällt die für diesen August geplante Produktion von Händels Agrippina aus. Immerhin Führungen sind aktuell wieder möglich, allerdings nur in sehr kleinen Gruppen.
Kirsten Liese, 3. Juli 2020, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .