Foto: © Tourismus Salzburg
von Kirsten Liese
Ich reise gerne und oft nach Österreich. In die Musikmetropole Wien und in die Festspielstadt Salzburg, wo ich unter Karajan 1976 einen unvergesslichen Don Carlos erlebte, zieht es mich seit Kindheitstagen. Aber längst sind auch andere reizvolle Städte wie Graz, Linz, Innsbruck und Bregenz dazu gekommen. Gerade in diesem Corona-Sommer spielt die Musik in Österreich. Jedenfalls erscheint es sensationell, dass dieses vergleichsweise kleine europäische Land innerhalb von zwei Monaten gleich vier Festivals in Graz, Salzburg, Grafenegg und Bregenz auf die Beine gestellt hat, während in Deutschland mit Ausnahme des noch anstehenden Berliner Musikfests nahezu alle Festivals absagten. Weil mein Hunger nach Musik groß ist, ließ ich es mir nicht nehmen, wie eine Nomadin von einem Festival zum nächsten zu ziehen.
Mein Blick auf die österreichische Nation hat sich darüber sehr zum Positiven verändert. Noch vor 20 Jahren war ich durchaus beeinflusst von den Theaterstücken des Skandal-Autors Thomas Bernhard, der kein gutes Haar an seinen Landsleuten ließ. Claus Peymann brachte zu der Zeit am Berliner Ensemble viele Stücke, die er in den 1980er Jahren bereits unter großen Protesten am Wiener Burgtheater uraufgeführt hatte. Insbesondere der 1988 uraufgeführte Heldenplatz, mit dem Bernhard auf das fünfzigste Jahr von Österreichs Anschluss an das nationalsozialistische Reich und die Waldheim-Affäre reagierte, prägte mein damals eher kritisches Österreich-Bild. Und besuchte ich in Wien wieder einmal das Kunsthistorische Museum, gingen mir Sätze des Herrn Reger aus den Alten Meistern durch den Kopf, der auf der Sitzbank im Bordone-Saal darüber sinniert, was es in Österreich alles an Scheußlichkeiten gibt.
Aber wie gesagt, das ist lange her. Mittlerweile fühle ich mich in Österreich wohler als in meiner Heimat. In welchem anderen Land können derzeit schon Dirigiergrößen wie Riccardo Muti und Christian Thielemann symphonische Großwerke wie Beethovens Neunte und Bruckners Vierte dirigieren? In Salzburg geht wohl immer noch Einiges mehr als in München oder Bayreuth. Dies freilich auch dank entsprechender Persönlichkeiten und Autoritäten wie einer Helga Rabl-Stadler, die das 100-jährige Festspieljubiläum als Präsidentin souverän und selbstbewusst verteidigt hat.
Immerhin an die 1000 Zuschauer durften ins Große Festspielhaus, und auf dem Podium wurde schon fast wieder so etwas wie Normalbetrieb hergestellt, was in Deutschland undenkbar erscheint. Will heißen, dass sich an die 120 Musiker der Wiener Philharmoniker aufstellen durften, zudem zu zweit an einem Pult. Man sieht also: Es geht! Sogar zwei Opern kamen in Salzburg zur Aufführung, und in der zurecht umjubelten Così fan tutte wurden sogar intime zärtliche Berührungen zwischen den Sängerinnen und Sängern möglich, die man sich wohl trotz Testungen an deutschen Opernhäusern noch nicht so bald trauen wird.
Aber auch beim Styriarte in Graz, im niederösterreichischen Grafenegg und bei den Bregenzer Festtagen konnte ich Konzerte erleben, von denen Musikfreunde anderswo nur träumen können. So stellte sich in Grafenegg das Tonkünstler-Orchester im Wolkenturm für eine höchst achtbare Aufführung von Beethovens Fünfter groß auf (sieben Kontrabässe an Bord!) und musizierte wunderbar filigran mit Alice Sara Ott ein Klavierkonzert von Mozart.
Bei den kurzfristiger anberaumten Bregenzer Festtagen erlebte ich unverhofft einen schier sensationellen Liederabend wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Sopranistin Anna El-Khashem und der Bariton Johannes Kammler gestalteten hier Miniaturen aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch und fünf Strauss-Lieder so vorzüglich, dass sich annehmen ließe, sie hätten einst bei Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau studiert. So nuanciert wie Kammler habe ich noch nicht einmal Christian Gerhaher und Matthias Goerne je gehört, die viel gepriesenen Liedstars unserer Zeit.
Und während ich auf meiner Akkreditierungsbestätigung für das Ende August beginnende Berliner Musikfest darauf hingewiesen werde, dass es wegen Corona keinen gastronomischen Service in der Philharmonie geben wird, laden Graz und Grafenegg ihr Publikum vor dem Konzert zu einem Wein ein.
Nicht nur deshalb kann ich mich in Österreich wunderbar entspannen, ich fühle mich generell hier viel freier als in der BRD. In den meisten Hotels und Restaurants trägt niemand eine Maske, auch eine Registrierungspflicht zur Kontaktverfolgung kennt die Gastronomie hier nicht. Schaut man ein paar Tage keine Nachrichten, ist Corona mal richtig aus dem Kopf, das tut gut. Auch, weil weniger Angst umgeht. Geschadet hat das den Österreichern nicht, jedenfalls fallen die Infektionszahlen keineswegs höher aus als in Deutschland.
Nirgendwo sticht der Vergleich so klar ins Auge wie im Dreiländereck am Bodensee. Wiewohl Bregenz und Lindau nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen, tun sich Welten zwischen den Regionen auf. Und dort, wo Masken auf österreichischer Seite unumgänglich erscheinen wie im Festspielhaus, sehe ich viel mehr Menschen mit transparenten Gesichtsvisieren. Unter denen kann man besser atmen und sie sehen optisch besser aus, finde ich. Einheimische, mit denen ich ins Gespräch kam, bestätigen meinen Eindruck. Nach Lindau zieht es sie der strengeren Maskenpflicht wegen nicht unbedingt. Ich würde auch gerne hier bleiben. Und denke schon darüber nach, wann sich die nächste Gelegenheit bietet – für eine weitere Reise nach Österreich.
Kirsten Liese, 21. August 2020, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .