Seine schönsten weisen Worte in unseren Interviews hat Pressler über Mozart gefunden. Sie gehen mir von Zeit zu Zeit immer wieder durch den Kopf: „Ohne Mozart gehen wir zu Fuß, aber mit Mozart können wir fliegen.“
von Kirsten Liese
Foto: Menahem Pressler und Kirsten Liese
Wenn ein Musiker noch im hohen Alter auf dem Konzertpodium seinen eigenen hohen Ansprüchen gerecht werden kann, ist das eine große Gnade. Es gibt nicht viele, von denen ich das sagen würde, aber einer ragt da wie ein Leuchtturm heraus: der Pianist Menahem Pressler. Am 16. Dezember 1923 wurde er in Magdeburg geboren, mit Anfang 90 gab er sein Debüt als Solist der Berliner Philharmoniker, als Gründer des legendären Beaux Arts Trios schrieb er in der Kammermusik Geschichte, der 100. Geburtstag befindet sich in Reichweite. Ihm, den ich nicht nur als genialen Künstler, sondern in mehreren Begegnungen für Interviews auch als wunderbaren, liebenswerten Menschen kennenlernen durfte, ist meine heutige Klassikwelt gewidmet.
Zum Zeitpunkt unseres letzten Treffens vor fünf Jahren in Verbier unterrichtete und konzertierte er auch noch, und das auf dem gewohnt hohen Niveau. Wäre nun nicht die Pandemie in die Quere gekommen, würde er vielleicht auch jetzt noch konzertieren. Aber auch ohne diese Option ist und bleibt dieses Künstlerleben ein außerordentlich reiches, erfülltes und einzigartiges.
Wirtschaftliche Nöte vor allem in den Anfängen des Trios, mit dem sich bis zum internationalen Durchbruch schwer eine Existenz bestreiten ließ, sowie so manche Streitigkeiten mit den Kollegen gehörten zu diesem Leben auch dazu.
Und doch überwog in der langen, erfolgreichen, an die acht Jahrzehnte währenden Laufbahn, das Glück, dies vor allem in den entscheidenden Jahren seiner Jugend. Drei Wochen, bevor Deutschland in den Zweiten Weltkrieg ging, machte der damals 16-Jährige mit seiner jüdischen Familie in Italien Urlaub und reiste von dort aus zwei Wochen später nach Israel, wo er vor Hitler in Sicherheit war. Eine bewusste Flucht vor den Nazis war dies nicht, rückblickend sprach Pressler von einem denkwürdigen „Zufall“. Sein Heimatgefühl für Deutschland verließ ihn gleichwohl nicht. Immer wieder kehrte er in späteren Jahren gerne nach Berlin zurück und erachtete es als „Geschenk“, in Deutschland zu spielen und „dass Deutschland mich hören will.“
Dass ich 2011 die große Chance erhalten sollte, den Pianisten für eine Sendung im SWR über sein gesamtes Leben befragen zu dürfen, war für mich ein großes Geschenk. Ich kann es ermessen, welche Anstrengungen das damals für den Künstler bedeutet haben muss, kam er doch eigens aus den USA anlässlich eines Konzerts für wenige Tage nach Berlin. Jeder Tag war – inklusive Ruhepausen – genau durchgetaktet. Dass er trotzdem noch ein Zeitfenster von zwei Stunden für mich fand, rührte mich sehr. Und wie erst musste ich mich geehrt fühlen, als der Meister mir am Ende signalisierte, dass das Vergnügen auch auf seiner Seite war.
Ein so hohes Lob wusste ich umso mehr zu schätzen, weil ich Pressler zuvor mehrfach auf Meisterkursen erlebt hatte. Im Ton blieb er zwar immer ruhig und überwiegend freundlich, aber konnte jemand seine hohen Ansprüche nicht einlösen, war doch ein gewisser Missmut bei aller Subtilität nicht zu überhören.
Wer aber lernbegierig war und zu schätzen wusste, aus welchem reichen Erfahrungsschatz dieser Mann zu schöpfen wusste, wurde reich belohnt.
Bis heute erscheint es mir unverständlich, wie sich jemand bei einem Meister, einem so renommierten noch dazu, in den Unterricht begeben kann, ohne sich mit dessen Persönlichkeiten und Qualitäten einmal beschäftigt oder zumindest ein paar Aufnahmen von ihm gehört zu haben. Beim „Chamber Music Connects The World“ in Kronberg im Taunus kam das eigentlich wenn überhaupt sehr selten vor, bei einem späteren Meisterkurs an der Berliner Hanns Eisler-Hochschule allerdings schon.
Da sah sich Pressler einmal sogar mit einem Ensemble konfrontiert, das ohne eine Partitur erschien, also nur die einzelnen Stimmen im Gepäck hatte. In so einer peinlichen Situation konnte Pressler durchaus kiebig werden. Er konnte ja nicht wissen, welches Stück die jungen Leute vorbereitet hatten, und um im Detail ernsthaft mit ihnen zu arbeiten, musste er natürlich die Möglichkeit haben, mitzulesen und sich Notizen zu machen. Zugleich erlebte ich ihn aber immer als einen Kavalier der alten Schule.
Als Musiker kam mir Pressler aber weiß Gott nicht erst unter, als ich journalistisch tätig wurde. Vielmehr begleitet er mich eigentlich schon mein ganzes Leben. Ich musste gerade schmunzeln, als ich in dem neuen Beethoven-Buch von Christian Thielemann auf einen Abschnitt stieß, in dem er sich an die goldenen 1970er-Jahre erinnert, in denen in Berlin der Kammermusik ein reiches Forum geboten wurde. Oh ja, das weckt auch in mir tolle Erinnerungen, war ich doch ebenfalls in meiner Jugend damals oft in der Philharmonie zu den großen Kammermusik-Reihen und Quartettabenden unterwegs. Neben dem Amadeus-Quartett war das Beaux Arts Trio, damals noch in der ersten Formation mit dem Geiger Daniel Guilet und dem Cellisten Bernard Greenhouse, zu erleben. Mozart, Beethoven, Schubert und Brahms, das waren so ihre Götter, und Presslers Art des Musizierens war schon damals unverkennbar: Während Greenhouse meist kerzengerade am Cello saß, wandte sich Pressler nahezu permanent immer wieder mit Kopf und gebeugtem Oberkörper seinen Kollegen zu und kroch dabei nahezu in die Tastatur hinein, souverän über den Notentext erhaben, den er sowieso auswendig konnte, suchte er stets den Blickkontakt der Kollegen.
Eben darin drückte sich auch die hohe Kunst der Kammermusik in seinem Verständnis aus: „Wenn Du ein guter Kammermusiker bist, hörst du jeden. Dann wird das ich zum wir, dann treten das eigene Ego und jedweder Narzissmus hinter der Musik zurück“, sagte er. Und spielt ein Cellist, Bratscher oder Geiger „eine Phrase besonders schön und elegant, dann freust du dich und denkst, ich kann sie noch schöner spielen und versuchst es auch.“ Meistens gelänge das zwar nicht, aber „was an Schönheit dabei herauskommt, ist gemeinsam, und das ist etwas Wunderbares!“
Wie sein Kollege Gidon Kremer, den er oft in Kronberg traf, wo sie unterrichteten und zusammen musizierten, hatte Pressler eine sehr große Liebe fürs Detail und genau den richtigen Instinkt, wie etwas klingen muss. Häufiger vermisste er die Sensitivität bei den jungen Kolleginnen und Kollegen am Klavier, die sich in technischer Perfektion präsentierten, aber eben doch emotional offenbar nicht bis zu den tiefsten Schichten etwa der Schubertschen Musik vorzudringen vermochten. Aber solche Ideale festigen sich freilich auch, wenn man aus solch einer Generation kommt, die noch einen Gilels, Kempff oder Rubinstein gehört hat.
Seine schönsten weisen Worte in unseren Interviews hat Pressler über Mozart gefunden. Sie gehen mir von Zeit zu Zeit immer wieder durch den Kopf: „Ohne Mozart gehen wir zu Fuß, aber mit Mozart können wir fliegen.“
Kirsten Liese, 19. Dezember 2020, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .