Foto: Marin Alsop © Grant Leighton
„Das Wichtigste ist freilich das musikalische Erleben, und gelingt es einem Musiker nicht, für sein Spiel einzunehmen, nutzt der eleganteste Anzug nichts.“
von Kirsten Liese
Die Bamberger Symphoniker haben sich gerade neu eingekleidet. In den alten schwarzen Fräcken aus Schurwolle gerieten die männlichen Orchestermitglieder zu stark ins Schwitzen, zudem fühlten sie sich durch den steifen Stoff in ihren Bewegungsabläufen eingeschränkt. In den neuen Anzügen reguliert ein speziell entwickeltes Material die Temperatur, auf die Weise werde ein Hitzestau vermieden, berichtet die Zeitschrift Das Orchester in seiner aktuellen Ausgabe über dieses erfolgreiche Pilotprojekt, zudem steigern seitliche, hoch elastische Einsätze in den Jacketts und Hosen die Bequemlichkeit.
Frack, Fliege und Leibbinde, das sogenannte „Kummerbund“: Fast 300 Jahre alt ist diese klassische Kleiderordnung für die Herren im Orchester. Manch einer mag sie vielleicht nicht mehr als zeitgemäß erachten, schon Pierre Boulez soll gewettert haben, er könne den Frack nicht mehr sehen.
Wenn ich ihn selber häufig tragen müsste, würde es mir vielleicht auch so gehen. Aber aus der Zuschauerperspektive finde ich Gefallen an ihm, ich mag diese schlichte Eleganz.
Das wird mir besonders dann bewusst, wenn ich Herrschaften auf der Bühne sehe, die sich davon rigoros absetzen und provokativ den Flegel herauskehren. Ein gewisser australischer Regisseur zum Beispiel, der sich zu seinen Ansprachen bei Opernpremieren gerne in Alltagsklamotten und kunterbunten Joggingschuhen präsentiert.
„Kleider machen Leute“, davon wusste schon Gottfried Keller eine Geschichte zu erzählen, und doch will ich damit nicht gesagt haben, dass für mich solche Äußerlichkeiten unverzichtbar sind. Das Wichtigste ist freilich das musikalische Erleben, und gelingt es einem Musiker nicht, für sein Spiel einzunehmen, nutzt der eleganteste Anzug nichts. Auf die weiblichen Orchestermitglieder trifft das freilich gleichermaßen zu. Seit 2011 gibt es etwa für die Musikerinnen der Wiener Philharmoniker feste Standards: schwarz-grau gestreifte Nadelstreifenhosen, weiße Hemden, Westen und schwarze Sakkos.
Vor 80 Jahren fand sich in der linken Brusttasche eines Herren-Anzugs meist noch ein Kavalierstuch. Das wäre eigentlich mal einer ganz eigenen kulturgeschichtlichen Betrachtung wert. Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler oder Sergiu Celibidache trugen es, auch Vokalsolisten wie die Comedian Harmonists. Wird es nun heute als altmodisch empfunden oder gibt es andere Gründe, warum nur noch sehr wenige Dirigenten daran festhalten? Christian Thielemann, den ich bei Abendkonzerten nie ohne das Accessoire gesehen habe, ist der beste Beweis dafür, wie es ein Gesamtbild perfektionieren kann.
Generell scheint der Typ des Kavaliers nicht mehr so gefragt zu sein. Anders in den 1950er und 60er Jahren, da wollten viele Männer noch ein Gentleman sein wie Cary Grant auf der Leinwand, der – stets sauber gescheitelt und wie aus dem Ei gepellt – mit selbstironischer Attitüde und unverkennbarem Charme als ein Mann von Welt auftrat.
Und doch hat sich trotz veränderter Moden und Rollenbilder im Laufe von Jahrzehnten ein gewisses klassisches Outfit in den meisten Orchestern gehalten. Auch bei einem Klangkörper wie dem Baltimore Symphony, wo mit Marin Alsop eine Frau als Chefdirigentin die Hosen anhat. Damit die Herren nicht so schwitzen müssen, ließ auch sie neue Fräcke aus speziellen Stoffen fertigen unter der Maßgabe, dass diese nicht „zu trendy“ sein sollten. Schließlich wolle man nicht in wenigen Jahren wieder „out“ sein.
Kirsten Liese, 1. Januar 2021, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .
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