Simon Rattle, Foto: © Astrid Ackermann
von Kirsten Liese
Mehrere Orchester suchen nach einem neuen Chefdirigenten. Die Neuorientierung wird nicht leicht. Zwar kursieren noch zahlreiche Namen von international sehr begehrten Dirigenten wie zum Beispiel Andris Nelsons, Kirill Petrenko oder Teodor Currentzis, aber die Reihen lichten sich. Die Nachfrage ist größer als das Angebot. Und so wie auch das Reisen angesichts von Corona und Klimakrise schwieriger wird, verringern sich die Möglichkeiten und Chancen für Dirigenten, mehrere Orchester, die räumlich weit auseinander liegen, parallel zu managen.
So wundert es nicht, dass das Orchestre Symphonique de Montréal schon seit drei Jahren einen Nachfolger für den im Sommer letzten Jahres geschiedenen Kent Nagano sucht, dem offenbar die weiten Strecken zwischen Hamburg und Montréal zuviel wurden. Auch das Amsterdamer Concertgebouw, das einen Nachfolger für den wegen #MeToo-Vorwürfen in Ungnade gefallenen Daniele Gatti sucht, wurde offenbar noch nicht fündig.
Auf die Suche wird sich auch die Zürcher Oper begeben müssen, von der gerade Fabio Luisi Abschied genommen hat. Und die Pariser Oper scheint nach dem Weggang von Philippe Jordan offenbar so in Nöten, so las ich in der „Welt“, dass sie sich den Venezolaner Gustavo Dudamel als neuen Musikdirektor vorstellen kann, der auf dem Gebiet der Oper äußerst wenig Erfahrung vorzuweisen hat.
Im derart stark rotierenden Dirigentenkarussell kommt es also zu Engpässen. Dies auch deshalb, weil die meisten gefragten Dirigenten schon mit mindestens einem Orchester in leitender Position versorgt sind. Vielbeschäftigte Energiebündel wie Vladimir Jurowski oder Valery Gergiev stehen in zweifacher Verpflichtung, der Kanadier Yannick Nézet- Séguin hat sogar drei (!) Positionen als Musikdirektor inne (Metropolitan Opera New York, Philadelphia Orchestra, Orchestre Métropolitain).
So gesehen war nun das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wohl recht froh darüber, Sir Simon Rattle an Land ziehen zu können, dem es gerade Recht kam, in England, wo er derzeit noch das London Symphony leitet, seinen Abgang zu machen. Den allgemeinen Jubel über diese Personalie kann ich allerdings nicht ganz nachvollziehen. Sternstunden des Briten in seiner Ära als Chef der Berliner Philharmoniker waren rar gesät.
Besonders schwierig werden dürfte es für das Chicago Symphony, 2022 einen neuen adäquaten Chefdirigenten zu finden. Die oberste Liga der Spitzendirigenten gibt jedenfalls aus meiner Sicht aktuell nur drei Künstler her: Christian Thielemann, Riccardo Muti und Daniel Barenboim. Sie sind die Besten, die wir haben. Muti leitete das CSO nun schon die vergangenen zehn Jahre und zieht sich zurück, Barenboim war an diesem Platz Mutis Vorgänger. Bliebe von drei Titanen noch Thielemann, sofern er denn bereit wäre, zwischen Dresden und Amerika zu pendeln.
Sehr dünn wird es auch in der jungen Generation der 30- bis 40-Jährigen. Einen vielversprechenden Maestro, wie Sergiu Celibidache einer war, als er im Alter von 33 Jahren 1945 als Furtwänglers Statthalter bei den Berliner Philharmonikern einen kometenhaften Aufstieg erlebte, kann ich zwar in der gegenwärtigen Dirigentenlandschaft nicht ausmachen. Aber Genies fallen bekanntlich auch nicht von den Bäumen. Und doch gibt es auch einen Lichtblick: Joana Mallwitz (35) hat sich 2019 mit ihrer tollen Così fan tutte in Salzburg und ihrem Debüt beim Berliner Konzerthausorchester mit Schuberts großer C-Dur-Sinfonie als beste Nachwuchsdirigentin empfohlen.
Nehme ich noch Mirga Gražinytė-Tyla (34) und Oksana Lyniv (43) dazu, die aktuell von sich reden machen, lässt sich bilanzieren, dass die Frauen endlich mal stärker nach vorne treten. Das gibt Anlass zur Freude, auch wenn man angesichts dieser an einer Hand abzählbaren Persönlichkeiten doch nicht umhin kommt, sich um den Nachwuchs Sorgen zu machen.
Bei der Frage nach den Ursachen können wir vermutlich angesichts mangelnder Studien nur Vermutungen aufstellen: Haben wir es mit einem Mangel an Talenten zu tun? Werden Dirigenten an den Musikhochschulen unzureichend ausgebildet, erwärmen sich zu wenige für den Beruf und haben wir es insgesamt mit einem Verlust an Qualitätsmaßstäben zu tun? Auf der Suche nach den Gründen türmen sich Fragen über Fragen. Martin Fischer-Dieskau, der sich ihnen als Dirigent aus der Praxis widmet, verweist noch dazu auf die veränderte Haltung von Idealen und Werten sowie den nicht unerheblichen Einfluss von PR-Agenturen und Lobbyisten, die Karrieren ungeachtet künstlerischer Leistungen befördern. Er hat ein spannendes Essay unter dem Titel „Qualifikation oder Hybris“ darüber geschrieben, das noch der Veröffentlichung harrt.
Nicht, dass Sie mich missverstehen: Es erscheint völlig normal, wenn Künstlerinnen und Künstler im fortgeschrittenen Alter den Zenit erreichen und bekanntlich ist jemand so alt, wie er sich fühlt. Weder Daniel Barenboim (78) noch Riccardo Muti (79) wirken auf mich altersmüde – im Gegenteil. So zeigte sich Barenboim im vergangenen Sommer trotz Corona ungemein rührig im Kontext mit dem 450-jährigen Jubiläum der Berliner Staatskapelle. Und auch Muti stellt mit scheinbar endlosen Reserven mit seinem Luigi Cherubini Jugendorchester Konzerte auf die Beine, hält Reden und appelliert an die Politik, die Kultur nicht weiter auszubremsen. Hoffen wir, dass beiden ihre Energie noch lange erhalten bleibt.
Aber eines ist auch klar: Auf lange Sicht wird das Niveau sinken, wenn die letzten Großen einmal abtreten und von unten zu wenig nachrückt. Das wäre sehr traurig.
Kirsten Liese, 22. Januar 2021, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .
Thielemann wird noch froh sein, überhaupt irgendeinen Posten zu ergattern. Dresden geht ja deutlich dem Ende entgegen und was in Bayreuth zu retten sein wird, liegt nicht in seiner Hand.
Mallwitz hat ein sehr gutes Management, ist aber deutlich überbewertet.
Wo bleiben weitere der Allergrößten: Nelsons? Pappano? Welser-Möst?
Wenn schon die fortschrittenen Semester: Adam Fischer in seiner Bescheidenheit wird leicht übersehen……
Bei den Jungen: Viotti schlägt die meisten seiner Altersstufe locker.
Waltraud Riegler
Schön, dass Sie Lorenzo Viotti in den Raum werfen. Ich denke auch, dass man den 30-jährigen Schweizer auf jeden Fall am Radar haben sollte.
Vermutlich gibt es auch noch eine Reihe weiterer junger Dirigenten, deren Arbeit mir noch unbekannt ist, die Potential haben. Würde mich über weitere Tipps freuen. Damit ich da ein wenig reinhören kann.
Bezüglich Adam Fischer. Ist der nicht überwiegend in der Oper zu Hause? Als Konzertdirigent ist er mir bislang nicht aufgefallen.
Jürgen Pathy
Neben Lorenzo Viotti sollte man an dieser Stelle auch Lahav Shani, Carina Kanellakis und Thomas Guggeis nicht vergessen. Es mangelt nicht an Dirigenten-Nachwuchs, es mangelt an Bereitschaft der großen Häuser, diesen zu engagieren.
Wie Gustavo Dudamel haben auch Andris Nelsons und Dan Ettinger noch einen Großteil ihrer Karriere vor sich. Letzterer ist übrigens einer der wenigen, der, wie es sich gehört, bei Le Nozze di Figaro neben dem Dirigat auch noch die Rezitativ-Begleitungen übernommen hat (Salzburger Festspiele 2015). Und 2013 hat er eine geniale Carmen, mit Roberto Alagna als Don José, an der Wiener Staatsoper geleitet. Wäre sicherlich eine gute Wahl für die Pariser Oper.
Johannes Fischer
Die Wahrscheinlichkeit, dass man Guggeis bald an der Wiener Staatsoper hören dürfte, dürften gar nicht so gering sein. Zumindest, wenn man glaubt, was hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Die Gerüchteküche brodelt.
Jürgen Pathy
Na ja, ich kann Ihrer Einschätzung nicht folgen. Muti ist einer der besten Dirigenten, dazu zähle ich aber nicht Thielemann und schon gar nicht Barenboim.
Es gibt eine ganze Reihe herausragender Dirigenten, die allemal besser sind und interpretatorisch mehr zu sagen haben, als der müde Barenboim (aussageloser Beethoven, jüngst im RBB zu durchleiden) oder der völlig überbewertete Thielemann, der den bisher fadesten Beethoven-Zyklus aufgenommen hat.
Rattle in München….., da geht es nur um den Namen und nicht um die musikalische Aussage. Auch ihm fehlen spannende Interpretationen. Vielleicht lernt ja jetzt Rattle endlich einmal die deutsche Sprache, da er deutscher Staatsbürger werden möchte. Nach so langer Zeit in Deutschland ist das längst überfällig, but sorry, I’m a british conductor……
Nein, diese Dirigenten stehen nicht für Zukunft.
Die Oper Zürich hat übrigens längst einen neuen und besseren Nachfolger gefunden: Gianandrea Noseda!
Ich nenne einige Dirigenten, an die m.E. zu wenig gedacht wird und die spannendere Alternativen wären: Myung-Wun Chung, Esa-Pekka Salonen, Manfred Honeck, Leif Segerstam, Jakub Hrusa, Gianandrea Noseda, Yoel Levi (der sein Orchester in Korea zu einem Weltklasse Orchester entwickelt hat).
In der jüngeren Generation gibt es drei herausragende Begabungen: Klaus Mäkelä (bereits in Oslo und Paris gebunden), Santtu-Mathias Rouvali (Chef in Göteborg) und für mich der ungewöhnlichste Dirigent der neuen Generation: Kahchun Wong (1. Preis beim Mahler Wettbewerb in Bamberg). Wong ist eine Ausnahmebegabung, den es immer noch zu entdecken gilt und der bereits jetzt eine herausragende Reife besitzt.
Bei den Damen möchte ich auf zwei Namen verweisen, die für mich bei den Dirigentinnen an der Spitze stehen: Susanna Mälkki und JoAnn Falletta.
Diego
„Der völlig überbewertete Thielemann „, schreiben Sie. Dazu schießt mir folgendes in den Kopf. Joachim Kaiser sagte Mal: „Wer meint, dass Karajan überschätzt sei, der unterschätzt ihn gewaltig!“
Ansonsten scheint einiges in dem Beitrag einfach aus der Luft gegriffen. Wie kommt Frau Liese auf die Idee, Thielemann würde es nach Übersee ziehen? Gibt es dafür Fakten oder zumindest Aussagen? Das würde mich brennend interessieren!
Jürgen Pathy
Lieber Kollege,
da haben Sie in meine Zeilen zuviel hinein interpretiert. Ich habe mich lediglich gefragt, ob das CSO, von dem ich annehme, dass es seine hohen Ansprüche aufrecht erhalten wollen wird, Thielemann nach Mutis Vertragsende anfragen könnte und offen gelassen, ob das für ihn eine Option wäre.
Das entzieht sich tatsächlich meiner Kenntnis.
Kirsten Liese
Thielemann und Muti sind einfach spitze! Da stimme ich der Autorin zu. Barenboim geht mit einigen Abstrichen (manchmal zu routiniert) auf Platz drei auch noch durch.
Ansonsten sieht es tatsächlich mau aus.
Insbesondere Pekka-Salonen, Welser-Möst und Honeck sind für mich die reinsten Schlaftabletten. Dann eher noch Pappano, aber den habe ich noch nie mit großen sinfonischen Werken gehört, meist nur Oper oder Verdi Requiem.
Rattle: Überzeugt mich auch nicht, macht auch keine ansprechenden Programme, zuviel Uninteressantes wie Adés.
Warum die Pariser Oper Herrn Dudamel will, verstehe ich am wenigsten, dann doch noch eher Ulf Schirmer oder Sebastian Weigle. Die sind wenigstens opernerfahren, machen eine solide Arbeit und wären vielleicht auch offen, für was Neues?
Cora Oertel