Ida Praetorius’ Julie in Neumeiers Ballett Liliom hat Tiefe und ist spannend zugleich

Liliom, Ballettlegende von John Neumeier frei nach Ferenc Molnar  Staatsoper Hamburg, Hamburg Ballett, 27. April 2023

Ricardo Urbina (Elmer, Sohn von Marie und Wolf), Tristan Burawski-Borrmann (Louis als kleiner Knabe), Illia Zakrevskyi (ein schüchterner Junge), Borja Bermudez (Wolf Beifeld), Yaiza Coll (Marie), Francesco Cortese (Louis, Sohn von Liliom und Julie), Ida Praetorius (Julie), Edvin Revazov (Liliom), Patricia Friza (Frau Muskat), Matias Oberlin (der Mann mit den Luftballons), Lasse Caballero (Konzipist im Jenseits) Aleix Martínez (Ficsur), Lizhong Wang (ein Matrose) (Foto: RW)

Liliom gehört zu den schönsten Kreationen des Choreographen John Neumeier und wird leider viel zu selten aufgeführt. Das vollbesetzte Haus applaudierte begeistert und lang, darunter auffällig viele junge Menschen. In derselben Besetzung wird Liliom nochmals am Montag, den 1. Mai aufgeführt. Es gibt dafür aber nur noch ganz wenige Karten.

Staatsoper Hamburg, Hamburg Ballett, 27. April 2023

Liliom, Ballettlegende von John Neumeier
frei nach Ferenc Molnár

Musik: Michel Legrand, Auftragswerk Hamburg Ballett / Hamburgische Staatsoper
Choreographie, Kostüme und Licht: John Neumeier
Bühnenbild: Ferdinand Wögerbauer

von Dr. Ralf Wegner

Ida Praetorius hat sich mit der Rolle der Julie weiter von dem Vorbild Alina Cojocaru emanzipiert. Nicht duldend ergeben und alle Schicksalsschläge still und in sich gekehrt hinnehmend zeigt Praetorius eine Figur mit Ecken und Kanten, die kämpft, verzeiht, sich abnabelt und bereit ist, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Tänzerisch-technisch ist sie sowieso großartig. Ihr darstellerischer Ausdruck ist prägnant, man fürchtet nicht um ihr Schicksal. Dieses vorausahnend zerbricht sie seelisch nicht und zeigt in einem tiefenspannenden Solo an der Bahre Lilioms, welche Kraft sie aus der Trauer für die Zukunft zieht. Das Hemd, welches sie Liliom, fast gewaltsam, auszieht, ist nicht nur eine Erinnerung an den Geliebten, sondern darstellerischer Ausdruck der Transformation der Stärke des Verstorbenen auf sie selbst. Frau Muskat, die von Liliom Verlassene und auch noch schändlich beraubte Inhaberin des Kirmes-Karussels hat diese Stärke nicht, sie zerbricht an dem Tod ihres ehemaligen Liebhabers. Patricia Friza stellt das großartig dar, auch gehören ihre Pas de deux mit Liliom zu den Höhepunkten des Abends. Beide, Praetorius und Friza, erhielten für ihre exzellenten tänzerischen Leistungen am Ende Blumensträuße auf die Bühne geworden.

Ida Praetorius und Edvin Revazov (Foto: RW)

Edvin Revazov war Liliom, anders als der dem Ordinär-vulgären nicht abgeneigten, auf seine Art ebenfalls faszinierenden Darstellung des früheren Tänzers des Liliom Carsten Jung legt Revazov die Rolle souveräner, weicher, aber auch empathischer und weniger selbstverliebt an. Auch das überzeugt. Außerdem partnert er hervorragend. So sind seine zahlreichen Pas de deux mit Praetorius, Friza und mit seinem Sohn Louis derart, dass sich diese als der Schönheit des Augenblicks gewidmet umschreiben lassen. Louis wird mit hohem physischen Einsatz von dem jungen, 21jährigen Ensemblemitglied Francesco Cortese großartig getanzt. Er ist der Sohn seines Vaters, liebenswert, aber wild und unbändig, sich nicht an Regeln haltend und die Leute vor den Kopf stoßend. Liliom erkennt am Ende, dass weder er sich ändern kann, und dass sich auch in seiner Nachfolge wohl nichts ändern wird. Nur Julie steht über Allem. Sie verzeiht, gibt Liebe, wo sie kann, und bleibt am Ende auf der Bank, wo sie sich einst mit Liliom verband, beseelt von der Erinnerung, allein zurück.

Ihre Freundin Marie (Yaiza Coll) ist derweil mit ihrem Mann Wolf Beifeld (Borja Bermudez) und dem gemeinsamen Sohn Elmer (Ricardo Urbina) abgereist. Marie hat den gesellschaftlichen Aufstieg, den sich all die jungen Mädchen auf dem Kirmesfest irgendwie erträumten, geschafft. Auch der heitere Liebes-Pas de deux von Coll und Bermudez gehört zu den schönsten Höhepunkten dieses Balletts. Neumeier hält weitere Rollen parat, so für einen betrunkenen Matrosen, der bei Julie übergriffig wird und sich mit Liliom einen Kampf liefert. Lizhong Wang füllt dieses Rolle, auch sprungtechnisch, perfekt aus; ebenso Illia Zakrevskyi, der einen schüchternen, sich erfolglos um Julie bemühenden Jungen darstellt. Aleix Martínez gelingt es unverändert, mit seiner Interpretation des fiesen, sich ständig die tropfende Nase wischenden Banditen Ficsur Begeisterung beim Publikum auszulösen.

Borja Bermudez, Yaiza Coll und Francesco Cortese

Und dann gibt es noch drei weitere, in das Ballett integrierte Rollen wie den Konzipisten im Jenseits (Lasse Caballero), eine Art Himmelswächter, der Liliom sein schuldhaftes Verhalten vorhält, einen traurigen Clown (Louis Haslach), dem es nie gelingt, seinen verlorenen, stets mit dem Fuß wieder weggestoßenen Hut aufzuheben sowie einen Mann mit den Luftballons (Matias Oberlin), der die Verbindung zwischen Erde und Himmel gewährleistet. Außerdem treten orientalische Frauen, chinesische Jongleure, Zirkustänzerinnen oder Akrobaten auf. Absoluter Höhepunkt des gesamten Balletts ist aber der stakkatohafte Auftritt der 22 Jobsuchenden, die zur mitreißenden Musik von Michel Legrand ein weitgehend synchrones Ensembleballett mit höchsten physisch-tänzerischen Anforderungen auf die Bühne bringen. Schade, dass bisher weder das gesamte Ballett noch insbesondere dieser Part von Neumeier verfilmt worden ist.

Überhaupt die Musik. Es handelt sich um ein melodien- und klangfarbenreiches Auftragswerk des Jazz- und Filmmusikkomponisten Michel Legrand. Legrands Komposition und Neumeiers Choreographie verflechten sich zu einer Einheit wie ein silbrig durchwirkter Zopf. Um nicht nur den klassischen, sondern auch den modernen, dem Jazz zugeneigten Charakter der Musik zu betonen, spielt neben dem Philharmonische Staatsorchester (im Graben des Opernhauses, Leitung Nathan Brock) auch die NDR Bigband im Bühnenhintergrund, auf einer erhöhten Ebene.

Alles in Allem gehört Liliom zu den schönsten Kreationen des großen John Neumeier und wird leider viel zu selten aufgeführt. Das vollbesetzte Haus applaudierte begeistert und lang, darunter auffällig viele junge Menschen. In derselben Besetzung wird Liliom nochmals am Montag, den 1. Mai aufgeführt. Es gibt dafür aber nur noch ganz wenige Karten.

Dr. Ralf Wegner, 28. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Liliom, Ballett von John Neumeier, Hamburgische Staatsoper, 25. Februar 2022

Ballett Liliom, Wiederaufnahme beim Hamburg Ballett, Hamburgische Staatsoper, 20. Februar 2022

Hamburger Ballett-Tage, Nijinsky Gala XLVII Staatsoper Hamburg, 03. Juli 2022

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert