Lucia di Lammermoor © ROH. PHOTOGRAPHER+STEPHEN, CUMMISKEY
Es ist bemerkenswert, wie doch eine phänomenale Besetzung – an deren Spitze die einzigartige Nadine Sierra in der mörderisch (!) anspruchsvollen Rolle der Lucia – eine mehr als umstrittene Inszenierung des Jahres 2016 (Katie Mitchell), die beim Publikum der Royal Opera seinerzeit mehr Gelächter als Horror hervorrief, in ihrer aktuellen Wiederaufnahme zu einer hoch gefeierten Produktion aufwerten konnte.
Kritiker scheuten sich nicht, Vergleiche zwischen Sierra und Maria Callas (die Lucia war bekanntlich eine ihrer Star-Partien, namentlich unter der Stabführung Karajans in Berlin und Wien 1955/56) zu ziehen – obwohl der Gesangsstil der beiden Sängerinnen unterschiedlicher kaum sein könnte.
Wie dem auch sei: Die abenteuerliche Inszenierung, welche die große Bühne des Königlichen Opernhauses in zwei Hälften teilt (Bühne: Vicky Mortimer), auf denen sich synchron zwei Aspekte der Handlung abspielen, gibt zu denken und wird jedenfalls nie langweilig – trotz der eigenwilligen Einfälle und elementaren Inszenierungsmängel dieser Regisseurin, die auch noch in ihrer zweiten Wiederaufnahme seit 2016 manche Frage offen lässt.
Lucia di Lammermoor
Musik von Gaetano Donizetti
Libretto von Salvadore Cammarano
Royal Opera Covent Garden, 22. April 2024
zweite Wiederaufnahme der Inszenierung von 2016
von Dr. Charles E. Ritterband
Als die 35-jährige amerikanische Sopranistin Nadine Sierra nach ihrem Koloratur-Tour de Force als letzte und am meisten gefeierte Solistin zum Schlussapplaus die Bühne der Royal Opera betrat, erschien sie so taufrisch, als wäre sie soeben aus der Wellness-Anlage eines Fünfsternhotels gekommen. Doch was sie da noch vor wenigen Minuten als blutüberströmte Lucia sängerisch geleistet hatte, macht ihr auf den großen Opernbühnen dieser Welt nicht so rasch eine Kollegin (die Netrebko inclusive) nach.
Mühelos, stimmlich trittsicher und mit strahlend-klingender Reinheit hatte sie die steilen Stufen der halsbrecherischen Koloraturen der berühmten „Wahnsinnsarie“ samt den schwindelnden Höhen erklommen, nachdem sie bereits ihre Arie im ersten Akt atemberaubend schön intoniert hatte.
Katherine Baker begleitete die Schlüssel-Arie mit subtiler, stets unterstützender und nie dominanter Flöte (obwohl man sich, mein altes „ceterum censeo“, als Begleitung eher die Glasharfe als musikalische Verkörperung des „Wahnsinns“ gewünscht hätte, als die doch eher liebliche Flöte – wie letzten Sommer brillant in Macerata).
Wie dem auch sei – der meist ebenso kritische wie kompetente „Guardian“ zollt Nadine Sierra das höchste denkbare Lob: Eine neue Generation von exzellenten Sopranistinnen steht Schlange, um in Covent Garden zu singen. „Und in einiger Hinsicht ist Nadine Sierra die allerbeste unter ihnen“. Solches Lob ist kaum noch zu übertreffen. Und wer Sierra als Lucia gehört hat, muss in diesen Lobgesang einstimmen.
Ihre Kollegen standen dieser grandiosen Sopranistin mehr als nur kongenial gegenüber. Lucias unglücklicher Geliebter Edgardo wurde vom spanischen Tenor Xabier Anduaga mit wunderbar weichem Schmelz interpretiert. Lucias Bruder, Enrico Ashton, der das ganze Unheil verursacht, singt der polnische Bariton Artur Ruciński kraftvoll und warm.
Das berühmte Sextett gab bei jener Karajan/Callas-Inszenierung in den 50er Jahren Anlass zu Ärger zwischen den beiden Koriphäen, weil Karajan dem Drängen des Applauses nachgab und eine Wiederholung dieses herrlichen Musikstücks zuließ – was die Callas, welche ihre Kräfte für die „Wahnsinnsarie“ schonen wollte, so sehr verärgert, dass sie den Rest der Oper mit dem Rücken zum Dirigenten sang.
Nichts dergleichen geschah in Covent Garden: Der unselige Kurzzeit-Gatte Lucias, der uruguayische Tenor Andrés Presno, absolvierte seinen kurzen Auftritt mit stimmlichem Wohlklang und der zu spät einsichtige Kaplan Raimondo Bidebent (Insung Sim) absolvierte seinen Auftritt mit Aplomb.
Das Orchester der Royal Opera unter der souveränen Stabführung von Giacomo Sagripanti spielte unterstützend und wie immer hoch musikalisch.
Die Inszenierung, wie erwähnt, war zugleich inspirierend, innovativ – und problematisch. Die Bühne war in zwei Hälften geteilt, auf denen sich zwei Aspekte der Handlung abspielten, was nicht immer aufging. Am spektakulärsten war der Mord an dem Lucia aufgezwungenen Gatten Arturo Bucklaw: Wohl in jeder anderen Inszenierung weltweit – zumindest in jenen, welche dieser Kritiker besucht hat – findet der berühmte Gattenmord „offstage“, also für das Publikum nicht sichtbar und nur aus der „Wahnsinnsarie“ erkennbar hinter der Bühne statt.
Nicht so in der Inszenierung von Katie Mitchell: Da ist das Brautgemach, in dem die blutig unterbrochene Hochzeitsnacht stattzufinden hat, im linken Teil der Bühne zu sehen, während im rechten Teil das Hochzeitsfest (ohne das Brautpaar) weitergeht. Die Regisseurin kostet den Mord offenbar genüsslich (und mit ziemlich läppischem Ergebnis aus): In einer Art SM-Szene fesselt Lucia, nachdem sie frivol (was zu ihrem Charakter alles andere als passt) mit ihren weißen Socken gewedelt hat, ihren Kurzzeit-Gatten ans Bett und verbindet ihm mit den erwähnten Socken die Augen, während ihre Dienerin Alisa (Rachael Lloyd) neben dem Himmelbett das gezückte Messer bereitgehalten hatte und dieses dann (als Mordkomplizin!) ihrer Herrin überreicht – frei nach der Regisseurin.
Da fließt natürlich sehr viel Blut und Lucia betritt hernach wie sich’s gehört mit weißem, blutüberströmten Hochzeitsgewand zur „Wahnsinnsarie“ den Festsaal rechts.
Was nun aber wirklich stört, ist dass bei alledem ununterbrochen irgendwelche Diener im Schlafgemach herumwieseln und diesen oder jenen Gegenstand herein- oder heraustragen. Unnötige Ablenkung. Überhaupt ist die originelle Idee der Simultanbühnen für eine ziemlich fragwürdige De-Konzentration, eine Reduktion der Spannung in dieser hochdramatischen Szene. Immerhin ist die Motivation der Regisseurin Mitchell ziemlich offensichtlich: Sie will mit der bisherigen Tradition der „Wahnsinnsarie“ als traditionelles, vom Publikum sehnlich erwartetes Koloratur-Schaustück dieser Oper brechen. Sie geht zurück auf das literarische Vorbild von Donizettis Oper des Jahres 1835, auf den Roman „The Bride of Lammermoor“ von Walter Scott. Sie will die unmittelbare Vorgeschichte und die Ursache von Lucias „Wahnsinn“ ergründen und dem Publikum drastisch vor Augen führen. Dass dies ein wenig ans Lächerliche grenzt, ist – angesichts der theatralischen Tragik des Geschehens – etwas schade.
Eine poetisch geratene Besonderheit betrifft die Vorgeschichte, den gespenstischen „Sirenenbrunnen“ (hier in die Familiengruft der Ashtons verlagert), wo der Geist einer jungen Frau herumspukt, die einst hier von ihrem Geliebten aus Eifersucht ermordet und in den Brunnen geworfen wurde. Dieses wunderschöne junge Mädchen mit langem blondem Haar ist in der Inszenierung Mitchells in jeder Szene präsent – aber, anfänglich zumindest, nur für Lucia sichtbar.
Am Ende jedoch, nach dem Selbstmord Lucias, können alle diesen Geist erkennen. Logik? Das zweite Rätsel betrifft Lucias Mutter, die ja kurz zuvor verstorben ist. Auch sie geistert als stumme Erscheinung, vor allem in der Mordszene, auf der Bühne herum, ist anfangs nur für Lucia (die ja am Tod ihrer Mutter leidet) und am Ende dann für alle erkennbar. Logik?
Nach erheblicher Kritik an der ersten Fassung 2016 wurde in dieser Inszenierung manches korrigiert und die gravierendsten Mängel wurden behoben. Doch einiges ist geblieben. Egal. Gesanglich, musikalisch schlicht hinreißend.
Dr. Charles E. Ritterband, 25. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Regie: Katie Mitchell
Dirigent: Giacomo Sagripanti
Bühne: Vicky Mortimer
Lucia: Nadine Sierra
Lord Edgardo di Ravenswood: Xabier Anduaga
Lord Arturo Bucklaw (Lucias ungeliebter Gatte): Andrés Presno
Lord Enrico Ashton (Master of Lammermoor, Lucias Bruder): Artur Ruciński
Normanno: Michael Gibson
Raimondo Bidebent (Kaplan, Erzieher und Vertrauter Lucias): Insung Sim
Alisa, Lucias Vertraute: Rachael Lloyd
Orchester der Royal Opera London
Chorleitung: William Spaulding
Richard Wagner, Der fliegende Holländer Royal Opera House Covent Garden, 11. März 2024
Giuseppe Verdi, Il Trovatore Royal Opera Covent Garden, London, 5. Juni 2023
Gioachino Rossini, Der Barbier von Sevilla Royal Opera Covent Garden, 2. Februar 2023 PREMIERE