Riccardo Muti macht Beethovens Neunte zu einem Jahrhundertereignis

Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 9 in d-Moll, op. 125  Wiener Musikverein, 7. Mai 2024

Goldener Saal, Musikverein Wien © Wolf-Dieter Grabner 

Ludwig van Beethoven
Symphonie Nr. 9 in d-Moll, op. 125

Riccardo Muti, Dirigent
Wiener Philharmoniker

Julia Kleiter, Sopran
Marianne Crebassa, Mezzosopran
Michael Spyres, Tenor
Günther Groissböck, Bass

Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Wiener Musikverein, 7. Mai 2024


von Kirsten Liese

Der Anfang dieser Sinfonie sei wegen der metaphysischen Atmosphäre das Schwierigste, sagt Riccardo Muti: Die Tonalität bleibt vage, bis mehrere Takte später die tiefen Streicher den Grundton erreichen, es sei, wie wenn man gemeinsam mit dem Musikern in den Himmel schaue.

Aber das ist am 7. Mai im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins, wo die Wiener Philharmoniker unter Mutis Leitung 200 Jahre nach der Uraufführung die Neunte aufführen, nicht zu bemerken. Denn dem erfahrenen 82-Jährigen, der mit diesem Orchester schon ein halbes Jahrhundert zusammenarbeitet und sich fast demutsvoll vor der Partitur verneigt (an die Missa Solemnis wagte er sich überhaupt erst nach 50 Jahren des Studierens heran), gelingen die magischen ersten Takte mit der denkbar größten Natürlichkeit.

Diesen Einstieg aus dem Nichts trennen gleichfalls nur wenige Takte von einer dramatischen Zuspitzung zum ersten dynamischen Höhepunkt. Und auch die lässt Muti ganz organisch mit sparsamen, aber entsprechend energischen Gesten entstehen.

Im Laufe des ersten Satzes entfacht der Maestro dann eine schier schon gespenstische Dramatik, die einem das Blut gefrieren lässt. In diesem letzten Konzert bricht sie sich noch explosiver an, als in der ebenfalls von mir besuchten Aufführung am 5. Mai (die Wiener Philharmoniker feierten das besondere Jubiläum mit insgesamt vier Konzerten). Ja, ich muss eigentlich gestehen: So aufwühlend in der Dramatik des über 18 Minuten langen Satzes habe ich die Neunte noch nie zuvor gehört, noch nicht einmal unter Karajan. Und das gelingt Muti ganz und allein fern jedweder Attitüde Kraft seines eigenen Erlebens.

Riccardo Muti, Musikverein Wien © Kirsten Liese

Zum ersten Mal höre ich in den gewaltsamen Fortissimo-Schlägen etwa in der Mitte des Satzes, wie arrhythmisch quer die Instrumentengruppen gegeneinander stehen, was für beinharte Kämpfe da ausgetragen werden. Heute könnte man daraus die Modernität dieses Werks ableiten, in dem phasenweise alles chaotisch aus dem Lot zu geraten scheint und dann wie durch Zauberhand wieder in Harmonie zueinander findet.  Wobei Muti bei aller Wucht immer der Fels in der Brandung bleibt, der dafür sorgt, dass sich keine Stimme im polyphonen Dickicht verirrt.

Riccardo Muti, Musikverein Wien © Kirsten Liese

Das gilt auch für den 2. Satz, in dem Muti erneut plastisch die Musik nachzeichnet: die leichteren Holzbläsereinlagen mit der flachen Hand in kleinen Wellenbewegungen,  die gewaltigen Forteschläge mit – in der Gymnastik würde man sagen – strammen Hackbewegungen des Unterarms, wenngleich es das Wort nicht ganz trifft. Denn „gehackt“ wird hier gar nichts. Vielmehr gelingt in dieser Wiedergabe bis in kleinste Verästelungen hinein eine wunderbare Klangrede, die freilich anders tönt als bei Nikolaus Harnoncourt, der dieses Wort geprägt hat. Kein ruppiger, sondern ein stets sehr kompakter runder Klang ist bei Muti zu vernehmen, in den lyrischen Momenten musizieren die Wiener auf weit schwingenden Atembögen kantabel und legatissimo in exakter Interpunktion, wobei nie auch nur die kleinste Silbe untergeht.

Die Wiener Philharmoniker wussten freilich schon, warum es das „Natürlichste“ war, dieses Jubiläum in Mutis Hände zu legen, wie Daniel Froschauer, Vorsitzender des Orchestervorstands sagt, dies neben den bereits genannten Gründen auch deshalb, weil der 82-jährige Maestro eine lange Tradition in der Linie so bedeutender Beethoven-Dirigenten fortsetzt, zu denen Toscanini und Antonino Votto zählten, seinerzeit Mutis Lehrmeister.

Kaum ein anderer ist aktuell derart mit der Wiener Klassik – Haydn, Mozart, Beethoven – vertraut, wozu eben auch gehört, die Streicher in besonderer Weise zum Singen zu bringen.

Und das war in diesem letzten Konzertabend am 7. Mai besonders exemplarisch zu erleben, ganz besonders im Adagio, dem Herzstück der Sinfonie, das auch wieder so jenseitig wie aus dem Nichts erwuchs, von Muti und den Wienern aufs Hingebungsvollste musiziert. Wenn sich der Maestro da zu der berührenden Melodie den ersten Geigen zuwendet, sich leicht zur Seite zu ihnen beugt, hängt pure Magie im Raum.

Riccardo Muti, Musikverein Wien © Kirsten Liese

In dem seit Monaten restlos ausverkauften Musikverein halten in solchen Momenten alle andächtig den Atem an, kein Huster, kein Räuspern, nichts stellt sich gegen die Musik.

Und das ändert sich auch beim aufwühlenden Finalsatz nicht.

In dem Moment, in dem die Kontrabässe erstmals das Götterfunken-Thema anstimmen, ist der leiseste Gänsehaut-Moment erreicht.  Auch wieder so einer, in der die Stille den Klang gebiert. Noch dazu einen so runden schönen, wie man ihn auf diesen tiefen Instrumenten gar nicht unbedingt erwarten würde.

In dem grandiosen von Johannes Prinz einstudierten Chor des Wiener Singvereins, der sich in die Wogen der Begeisterung perfekt einfügte, hatten Orchester und Dirigent einen kongenialen Partner zur Seite.

Nicht restlos glücklich wurde man mit dem Solistenquartett, was aber auch bewusst machte, wie schwer diese Musik zu singen und letztlich ja auch zu spielen ist. Zur Uraufführung des Werks an jenem 7. Mai 1824 im Kärtnerthortheater war längst nicht alles perfekt, sagt Froschauer, die „technische Messlatte“ sei doch sehr hoch gewesen.

Riccardo Muti, Musikverein Wien © Kirsten Liese

Bei den Vokalstimmen hat es vor allem der Sopranpart in sich, mit zahlreichen aberwitzigen Tonsprüngen in hoher Lage. Dass das sehr anstrengt, ist Julia Kleiter anzuhören. Schon einst eine Elisabeth Schwarzkopf, die den Sopranpart unter Furtwängler sang, betonte, der Part habe es in sich, obwohl er mit keiner exponierten Melodie hervorsticht. Die schrieb Beethoven für den Bass. Günther Groissböck beginnt sein „O Freunde! Nicht diese Töne“ mit großem Volumen, aber wenig geschmeidig, angestrengt in der Höhe und leichten Intonationsproblemen in der Tiefe.

Das aber minderte nicht den herausragenden Gesamteindruck dieses Aufführungsgeschichte schreibenden, vom Publikum verdient euphorisch bejubelten Konzerts, das freilich auch ein Zeichen für Frieden, Brüderlichkeit und Nächstenliebe setzte.

So instinktsicher die Wiener Philharmoniker ihre Wahl für Riccardo Muti getroffen hatten, den das Publikum längst verehrt wie einst Karajan, so schlechten Geschmack legte leider der Fernsehsender Arte an den Tag, der die Sinfonie in seiner Jubiläumssendung auf unterschiedliche Orchester und deren Dirigenten aufteilte.

Für eine solch törichte Idee, die das Werk über unterschiedliche Handschriften zerlegt, war Riccardo Muti sicherlich nicht zu haben. Seine Mitstreiter hätten ihm vermutlich auch nicht behagt. Immerhin strahlt ORF2 am 9. Mai um 22 Uhr das Konzert mit Muti und den Wienern aus. Und auch bei der Unitel wird die Aufzeichnung auf Blu-ray erscheinen.

Es war unübertrieben ein Jahrhundertereignis.

Kirsten Liese, 8. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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