Foto: „Carmen“ an der Staatsoper Hamburg. © 2014 Brinkhoff/ Mögenburg
Meine Lieblingsoper (39): „Carmen“ von Georges Bizet
Eigentlich passt diese Oper gar nicht zu mir. Ein Soldat, der zum Mörder wird. Eine Hauptdarstellerin, die gleich am Anfang mit einem Messer auf andere losgeht. Dazu noch ein Stierkämpfer. Und dann lese ich im Spielplan der Lindenoper noch, das sei eine „Opéra comique.“ Wieso? Wie kann daraus eine Komödie werden? Was ist daran lustig?
von Johannes Karl Fischer
Ich gebe ja zu, dass meine Vorstellung von Komödie sehr, naja, speziell ist. Gewalt und Mord schließt sich bei mir mit Komödie aus. Selbst Candide von Leonard Bernstein, vom Komponisten höchstselbst ja als “funny” bezeichnet, finde ich irgendwie gar nicht lustig. Unter Komödie stelle ich mir, zum Beispiel, die Fledermaus vor. Oder die diversen musikalischen Scherze beim Wiener Neujahrskonzert. 2013, da hat Franz Welser-Möst dem Solo-Kontrabassisten plötzlich einen Stofftier-Elefanten gereicht. Der Oboist bekam eine Ente und der Solo-Cellist obligatorischerweise einen Schwan. Das ist, gleich im mehrdeutigen Sinne, Komödie.
Aber irgendwie hat Carmen doch etwas Zauberhaftes. Diese Musik. Und die Nähe zur realen Welt. Das ist keine Fantasiewelt, so wie bei Parsifal. Das was da auf der Bühne dargestellt wird, das könnte auch alles in echt passieren. Vor allem aber ist es diese enorme Vielfalt an Emotionen, die diese Oper so besonders macht.
Meine Mutter hat mir immer erzählt, nach jeder Tristan-Aufführung hätte sie heulen müssen „wie ein Schlosshund.“ Bei Tristan kann ich das einfach nicht nachvollziehen. Seltsamerweise komme ich auch bei Madama Butterfly in der Regel ohne Tränen durch. Aber Carmen ist da irgendwie anders. Warum, darauf habe ich bis heute keine definitive Antwort. Ein Versuch, es zu erklären, ist es trotzdem wert.
Vielleicht liegt es einfach daran, dass im Laufe der Oper so viele schöne, festliche, gar fröhliche Melodien zu hören sind. Einige davon in A-Dur. Bei dem Klavierkonzert KV 488 von Mozart, der Klaviersonate op. 101 von Beethoven, oder dem Walzer „Seid Umschlungen, Millionen“ von Johann Strauss, bringt diese Tonart ein paradiesisches Gefühl herbei. Wie in einem Traum, wo die Welt wie verzaubert wirkt.
Und bei Carmen, da dreht sich die Stimmung dann in einem Nu. Am Ende: Mord. Trauer. Niemand ist mehr fröhlich. Carmen ist tot. Don José fordert seine eigene Verhaftung. Wegen Mordes. Und alle anderen sind sowieso verschwunden. Die ganze Welt bricht zusammen. Das ist was zum Weinen.
Ein absolutes Highlight war für mich Roberto Alagna als Don José. In Wien. Überhaupt diese ganze Vorstellung, sie war für mich damals der Höhepunkt von dem, was ich bis dahin so an Oper erlebt hatte. Und ist, viele Jahre später, immer noch einer der besten Opernaufführungen, die ich je erlebt habe. Ja, Rinat Shaham, als Carmen, konnte mit Agnes Baltsa leider nicht ganz mithalten. Aber wer kann das schon?
Der absolute Gipfel dieser Vorstellung war die Inszenierung von Franco Zefirelli. Diese ist nicht nur die beste Carmen-Inszenierung überhaupt, sondern auch einer der besten Operninszenierungen seit jeher. Auf der Welt. Das Bühnenbild, das Regiekonzept, alles passt einfach perfekt zusammen. Kein Wunder, dass diese Inszenierung über 40 Jahre lang auf dem Spielplan stand.
Weniger überzeugend, aber auch interessant, fand ich die Carmen-Inszenierung von Calixto Bieito. Der bekannte „Skandalregeisseur“ hatte zwar einige äußerst interessante Konzepte, die er auf die Bühne gebracht hat, was mich aber gestört hat, waren die kleineren Details. Da wäre zum Beispiel, dass Bieito zwischen der Ouvertüre und dem Anfang des ersten Aktes einen gesprochenen Text eingefügt hatte: „L‘amour, c‘est comme la mort.“
Ja, genau das ist der Geist dieser Oper. Inhaltlich. Aber was an dieser Stelle ebenfalls auftritt, ist ein verkürzter Dominantseptnonakkord. Der gute alte „DV“, wie man in der Funktionstheorie so sagen würde. Mit (fehlendem) Grundton „C“. Und wohin löst man diesen, nach der klassischen Funktionstheorie, auf? Richtig, nach F. Genau das tut Bizet auch.
Somit befindet sich an dieser Stelle also eine Kadenz. Und genau da ist das Problem. Diese Kadenz löst nämlich die extreme Spannung, die durch die vorherigen, äußerst bedrohlich klingenden Akkorde aufgebaut wurde. Und ausgerechnet diese Auflösung wird durch einen gesprochenen Satz unterbrochen. Was bitte rechtfertigt solch einen Eingriff in die musikalische Handlung?
Sehr schade finde ich, dass ich bis jetzt noch nie Elīna Garanča in der Titelrolle erlebt habe. Glaubt man den Kritikern, so scheint die Carmen ja einer ihrer Paraderollen zu sein. Obwohl ich durchaus meine Zweifel habe, ob diese Rolle sängerisch so gut zu Garanča passt, würde ich mich von meiner Lieblingssängerin gerne überraschen lassen.
So wie zum Beispiel von Ruzan Mantashyan. So wie sie die Micaëla in Hamburg 2019 gesungen hat, das war einfach atemberaubend. Überhaupt finde ich, dass die Micaëla eine der schönsten Rollen dieser Oper ist. Sie ist zwar eigentlich nur eine Nebenrolle, hat aber trotzdem einige äußerst schöne Arien.
Zur aktuellen Inszenierung an der Hamburgischen Staatsoper von Jens-Daniel Herzog: Diese konnte mich, allem Lob der Presse zum Trotz, irgendwie gar nicht überzeugen. Das, was da auf der Bühne dargestellt wurde, das hatte mit Carmen einfach nichts zu tun. Viel zu harmlos. Vor allem im ersten und zweiten Akt. Irgendwie finde ich es schon komisch, dass einer der wenigen Inszenierungen, die mich in Hamburg so überhaupt gar nicht überzeugt hat, so ein positives Medienecho hervorgerufen hat. Und dabei wurde nicht nur an der Ring-Inszenierung von Claus Guth, sondern auch an der Traviata-Inszenierung von Georges Delnon höchstselbst, soviel rumgemeckert! Warum dann alle diese Carmen-Inszenierung so toll fanden, bleibt mir ein Rätsel.
Noch zum Schluss: Die wunderschöne Musik dieser Oper dient auch als Vorlage für zahlreiche weitere musikalische Werke. Wohl kaum ein Stück verarbeitet die Motive dieser Oper so kunstvoll, wie die Carmen-Fantasie von Pablo de Sarasate. Leider, leider, wird diese nur sehr selten live aufgeführt. Aber es gibt einige ganz tolle Aufnahmen. Wenn ich höre, wie Anne-Sophie Mutter diese Fantasie spielt, so habe ich manchmal das Gefühl: Sie ist Carmen. Sie „verkörpert“ die Rolle der Carmen besser, als es jede Sängerin, selbst in einer perfekten Interpretation der Gesangsrolle, tun könnte.
Johannes Karl Fischer, 21. Juni 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Die Bezeichnung Opéra Comique war kennzeichnend für Werke, deren musikalische Nummern nicht durch gesungene Rezitative, sondern durch gesprochene Dialoge verbunden sind.
https://de.wikipedia.org/wiki/Op%C3%A9ra-comique_(Werkgattung)
Lorenz Kerscher
Opéra-comique bedeutet keinesfalls, dass es sich dabei um eine komische oder lustige Oper handelt. Herr Kerscher hat ja bereits die Definition gegeben.
Frank Kantereit
Viele Dank für den Hinweis. Das ändert trotzdem nichts daran, dass diese Oper meiner Meinung nach sehr viel tragischer ist, als sie oft dargestellt wird.Schaut man zum Beispiel auf die Nummern, die in der erwähnten Carmen-Fantasie vorkommen oder auch die in der Carmen-Quadrille von Eduard Strauß, so bekommt man von den tragischen Momenten der Oper kaum etwas mit. Ich glaube, dass dies auch den Eindruck widerspiegelt, den die meisten ZuschauerInnen von der Oper haben.
Johannes Fischer