„Le Nozze di Figaro“ an der Wiener Staatsoper, Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
„Was ist hier wahr? Was nur ausgedacht? Und was geschieht einzig in der Vorstellung des Betrachters? Ich würde die Verwirrung über diese zentralen Fragen gern einmal auf einer abstrakten Bühne sehen, die das augenfällig macht. Alle Gefühle aber möchte ich hören. Bis mir diese Trauminszenierung eines Tages tatsächlich begegnet, drehe ich den Regler hoch, schwelge und lasse die Bilder in meinem Kopf tanzen.“
von Sandra Grohmann
Der Strippenzieher, der Alleskönner, der Organisierer, kurz: der Figaro, der alles im Blick hat, ist sauer. Geladen. Stinkwütend. Denn Graf Almaviva, für den er Dutzende Intrigen gesponnen hat, will ihm hinterrücks die Braut ausspannen. Diesen miesen kleinen Möchtegern wird er springen lehren! Er wird ihn richtig tanzen lassen. Der Graf will Ärger? Der Graf bekommt Ärger.
Das kündigt Figaro mit seiner Arie „Se vuol ballare, signor contino“, kaum dass er den Platz fürs Ehebett ausgemessen hat, kurz nach Beginn der Oper, die nach seiner Hochzeit benannt ist, unmissverständlich an. Nun liegt das besonders Reizvolle dieser Arie darin, dass sie als Menuett daherkommt und dessen vermeintlich gemessene Naivität in Kontrast zur Raserei Figaros tritt. Musikalisch lauert darin die Gefahr, dass die Wut über dem gesäuselten „will das Gräflein ein Tänzchen wagen?“ verraucht und der Kontrast verloren geht. Dann bleibt nichts als ein belangloses Liedchen. Mich erinnert das immer an meine Großmutter, die das „Tänzchen“ gern beim Abwaschen sang. Allerliebst! Aber nichts zum Mitfühlen.
Herzklopfen verursacht mir hingegen seit 2014 die Aufnahme unter Teodor Currentzis mit der MusicAeterna. Sehr präsent ist mir die elektrisierende Wirkung, die diese Einspielung bei Veröffentlichung hatte. Was für eine Nervosität im Orchester, wie flirrend die Ouvertüre: der „tolle Tag“, den das Stück beschreibt, springt vom ersten Ton an über. Ebenso in Herz und Glieder fährt Figaros Arie. Sie beginnt mit drei Giftpfeilen: Se – vuol – ballare, und Christian van Horn schleudert sie mit seinem vollen Bassbariton scharf hinaus. Kein Zweifel, die werden treffen. Und dann hören wir, ausdifferenziert wie selten, brodelnde Wut, die sich in einer verzwickten Situation Bahn bricht: zunächst die selbstbewusst-zuversichtliche Wiederholung der drei Wörter – dann der verhaltene Zorn – das Herausbrechen – das Sich-zur-Ordnung rufen – der erneute Ausbruch – die ironische Wiederholung – – – und die Bilder dazu tanzen im Kopf, selbst wenn man, wie ich, van Horns hünenhafte Bühnenpräsenz noch nie live erlebt hat.
Die Oper wäre nicht so berühmt, hielte sie nicht noch zahlreiche weitere musikalische Höhepunkte bereit, die den Zuhörern ins Ohr und über den Rücken schauern. Ins kollektive Gedächtnis eingegraben hat sich etwa das Duettino „Sull’aria…“ spätestens seit es im Film „Die Verurteilten“ (The Shawshank Redemption) aus den Lautsprechern des Gefängnishofs über selbigen schwebte und dort für verzücktes Lauschen der Gefangenen sorgte, während im Gebäude der Gefängnisdirektor seine Brutalität dadurch zum Ausdruck brachte, dass er die Übertragung des zu Herzen gehenden Zwiegesangs sofort beenden wollte. Aus dem Off dazu die Stimme der Hauptfigur: „Ich habe keine Ahnung, wovon die beiden italienischen Ladys sangen – um die Wahrheit zu sagen, ich will es auch gar nicht wissen. Manche Dinge bleiben besser ungesagt. Aber ich denke, sie sangen über etwas so Schönes, dass man es mit Worten nicht sagen kann…“ Sehenswerter Film übrigens.
Ich schweife ab. Wo war ich? Ach ja, Höhepunkte. Dabei fällt mir ein, dass ich in jüngeren Inszenierungen mehrmals zusehen musste, wie Susanna hinter Figaros Rücken (ob man es glaubt oder nicht, ich eher nicht) mit dem Grafen turtelt. Also dem, der bedauert, sein angebliches früheres Recht auf die erste Nacht mit der Braut eines Untergebenen aufgegeben zu haben. Hat er aber gar nicht. Das Recht bestand sowieso nie. Wie wir seit einer Untersuchung von Alain Boureau über jenes „ius primae noctis“ wissen, handelte es sich um ein literarisch-juristisches Fantasieprodukt.
Als Juristin, ich gebe es zu, bin ich von dieser Finte sehr angetan. Was für eine Metapher. Sie passt auch zu aller Vieldeutigkeit, allen Verwechslungen, aller Selbstfindung, deren wir in dieser Oper Zeuge werden. Was ist hier wahr? Was nur ausgedacht? Und was geschieht einzig in der Vorstellung des Betrachters? Ich würde die Verwirrung über diese zentralen Fragen gern einmal auf einer abstrakten Bühne sehen, die das augenfällig macht. Alle Gefühle aber möchte ich hören. Bis mir diese Trauminszenierung eines Tages tatsächlich begegnet, drehe ich den Regler hoch, schwelge und lasse die Bilder in meinem Kopf tanzen.
Sandra Grohmann, 26. Januar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Meine Lieblingsoper (59), Aida von Giuseppe Verdi klassik-begeistert.de
Sandra Grohmann, 1968 in Berlin geboren, hört alles an, was gut ist – von Monteverdi bis Czernowin, von epirotischer Volksmusik bis Brad Mehldau. Einziges Kriterium: „It must schwing!“ Was Alfred Lion beim Label Blue Note einst für den Jazz formulierte, möchte sie bei jeder Musik bis in die Haarspitzen spüren. Die Vielzahl an Opernhäusern in Berlin, wo die Deutsche Oper Berlin sie seit früher Kindheit Musikdramen lieben gelehrt hat, entzückt sie. Das Leben feiert sie ebenso gern bei großen Opernabenden wie auf griechischen Dorffesten. Seit Ende 2020 beschreibt sie (für) Klassik-begeistert ihren höchst subjektiven Blick auf die Bühne. Tagsüber beschäftigt sie sich ebenso enthusiastisch mit Jura, Organisationslehre, Personalführung und IT.