Foto: Nationales Sinfonieorchester der Ukraine Quelle: https://www.mb-concerts.com/
Nationales Sinfonieorchester der Ukraine
Volodymyr Sirenko, Dirigent
Olga Scheps, Instrument
Borys Ljatoschynskyj – Hražyna op. 58, Ballade für Orchester
Franz Liszt – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 Es-Dur S 124
Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 8 F-Dur op. 93
Zugaben:
Olga Scheps – Variation auf ein Thema aus „Unravel 2“ von Frieda Johnson
Mykola Lyssenko – Ouvertüre „Taras Bulba“
Levko Kolodub – Finale aus „Ukrainian Carpathian Rhapsody“
Kölner Philharmonie, 6. November 2022
von Daniel Janz
Es hat schon etwas hoch Brisantes, wenn das Nationalorchester einer Nation auftritt, die gerade in einem unverschuldeten Krieg ihrer eigenen Zerstörung entgegenblickt. Ganz besonders, wenn dieses Orchester als nationaler Botschafter auftritt. Von einer solchen Botschaft kann viel abhängen. Ist sie nun ein Ruf zu den Waffen? Ein Zeichen des Widerstands? Oder sogar Ausdruck von Friedfertigkeit und Vergebung? Was es an diesem Tag in Köln zu erleben gibt, ist jedenfalls nicht von Hass geprägt, sondern vermittelt den Eindruck einer unterdrückten Nation, die sich nach Freiheit und Frieden sehnt. Eine lohnende Gelegenheit also, musikalisch der Ukraine zu begegnen.
Das erste Stück bringt es bereits auf den Punkt. Der ukrainische Komponist Borys Ljatoschynskyj hat hier 1955 ein Wechselbad der Gefühle in Musik gegossen. Der im letzten Drittel seines Lebens unter sowjetischer Herrschaft lebende Komponist vertonte zum Anlass des Todes des polnischen Poeten Adam Mickiewicz dessen Gedicht Gražyna. In diesem beschrieb Mickiewicz eine Kriegerkönigin, die ihr Volk in den Kampf gegen den Deutschritterorden führte. Ein Werk, das im heutigen Kontext als Widerstandsaufruf gegen eine Invasionsübermacht verstanden werden kann. Kein Wunder, dass es zu den bedeutendsten Stücken Ljatoschynskyjs gerechnet wird.
Die Musik bedient sich dazu eines Einstiegs mit den Bratschen, der klanglich stark an ein Motiv aus der Orgelsinfonie von Camille Saint-Saëns erinnert – auch wenn der Rezensent hier einen Zufall annimmt. Dieses fließende Motiv mündet zunächst in ein sehnsüchtiges Englischhornsolo, bevor dann mal lebhaft durch die Partitur getanzt, mal düster im Orchester vor sich hingebrummt wird. Ein Choralthema markiert den Umschwung zum Kampf, bevor eine Marschepisode anklingt. Donnerndes Getöse, Fanfarenstöße, ab und an Dissonanzen, eine an einen Trauermarsch erinnernde Episode… da fällt es schwer, keine Bezüge zum aktuellen Krieg in der Ukraine zu schlagen. Besonders, als die Musik zu einem pathetischen Ende hinführt – Reminiszenz des Anfangsthemas und Englischhornsolos inklusive. Vom Publikum gibt es kräftigen Applaus.
Auch das Klavierkonzert von Franz Liszt setzt eine gewisse Kraft voraus. Voller Temperament sticht hier Solistin Olga Scheps (36) aus Moskau, heute in Deutschland lebend, heraus. Auch das Orchester unterstreicht zu Beginn diesen Eindruck, bevor es kammermusikalisch wird. Die Abspeckung der Klangvielfalt hat aber einen gewissen Ermüdungseffekt zur Folge. Liebliche Wechselspiele des Klaviers mit der Klarinette und der Solovioline können zwar überzeugen. Aber im Gesamtklangeindruck wirkten die Musiker etwas unsensibel, fast schon zu technisch, als würden sie nur vom Blatt spielen. Infolge entwickeln auch die lauten Stellen kaum Gänsehauteffekt, sondern lassen den Rezensenten kalt. Schade, denn eigentlich strotzt die Musik vor Virtuosität, was vom Publikum nach diesem einsätzigen Werk auch großzügig honoriert wird.
Dieser Dank reicht für eine Zugabe. Dafür erörtert Olga Scheps, dass sie sich eines Themas aus dem Computerspiel „Unravel 2“ bedient und daraus selbst eine Variation komponiert hat. Ein Spiel ohne Gewalt, wie sie betont, was diese Musik heute auch in den Kontext von Frieden rückt. Entsprechend ergießt sich dieses sehr klassisch anmutende Werk wie ein Deckmantel der Vergebung über den Saal. Wo Scheps bei Liszt noch ihr aufbrausendes Temperament gezeigt hat, spielt sie hier voller Gefühl und streicht die Harmonien geradezu aus ihrem Klavier heraus. Ein beeindruckendes Zeichen dafür, dass es nicht viele Instrumente braucht, um zu verzaubern.
Nach der Pause greifen Dirigent und Orchester dann in einem insgesamt harmonisch aber etwas altbacken wirkenden Programm zu einem Klassiker. Beethovens achte Sinfonie ist weniger aufbrausend, als andere Werke des Komponisten. Und dennoch setzt auch sie von Anfang an ein gewisses Temperament voraus, das dieses Orchester gut einfängt. Auch an der Körpersprache von Volodymyr Sirenko merkt man – hier stimmt die Anspannung. Es pulsiert richtig durch den Raum. So sehr, dass es das Publikum bereits nach dem ersten Satz zu einem begeisterten Zwischenapplaus reizt.
Ähnlich geht es auch mit dem frisch beschwingten zweiten und dem royalistisch anmutenden dritten Satz zu. Spannend ist das Wechselspiel der unterschiedlichen Lautstärken, das Dirigent Sirenko immer wieder gekonnt akzentuiert und damit dieser an Höhepunkten etwas armen Musik zusätzlichen Charme verleiht. Man merkt – der Beethoven liegt ihm. Dazu verzaubert das Solospiel der ersten beiden Hörner, die im Wechsel miteinander einen eigenen kleinen Höhepunkt erzeugen. Das Holz ist hier ebenfalls auf den Punkt und allen voran weisen die Streicher unaufgeregt aber prächtig den Weg. Auch dafür erntet das Orchester nach jedem Satz Zwischenapplaus.
Im Finalsatz beweist sich dann noch einmal die große Kunst eines Ludwig van, aus einer kleinen musikalischen Keimzelle stets großes Spektakel zu formen. Das beeindruckt selbst heute noch, wie er aus diesen derb stampfenden Anfangsakkorden einen ganz eigenen Verlauf, ja man möchte meinen, eine eigene Geschichte formte. Und wenn es dann auch noch so gut vorgetragen wird, wie heute, dann ist das den stehenden Schlussapplaus wert, der stellenweise stattfindet. Ein schönes Zeichen!
Dass sich ein Orchester der Ukraine aber nicht die Chance nehmen lässt, hier auch aus dem eigenen musikalischen Kulturgut zu schöpfen, wird deutlich, als das Ensemble unter Sirenko zu gleich 2 Zugaben ansetzt. Als erste erklingt die sehr aufbrausende Ouvertüre „Taras Bulba“ aus der gleichnamigen Oper von Mykola Lysenko von 1880 – 1891. Diese beruht auf einer Erzählung von Nikolaj Gogol, die ebenfalls in die Folklore slawischer Widerstandsgeschichten eingegangen ist und wohl durch die Vertonung von Leoš Janáček am bekanntesten geworden sein dürfte.
Lysenkos Alternative zu Janáček kann auch deshalb eher als Zeichen des Widerstands gedeutet werden, weil er in dieser Oper auf die Nutzung der Ukrainischen Sprache bestand, die 1876 durch den Emser Erlass verboten worden war. Musikalisch wechselt diese Ouvertüre stets zwischen bombastischen Klangausbrüchen und freudestrahlenden Höhepunkten. Spannend auch, wie das – personell aufgestockte – Orchester in dieser Musik einen volleren Klang erreicht, als bei Liszt und Beethoven. Hier gibt es dann auch geschlossen Standing Ovations.
Mit dem Finale aus der „Ukrainian Carpathian Rhapsody“ des erst 2019 verstorbenen und in Deutschland gänzlich unbekannten ukrainischen Komponisten Levko Kolodub endet dieses Konzert dann noch einmal mit einem Knall! Dieses Werk mit starker rhythmischer Konnotation – ähnlich wie Beethoven, aber mit sehr viel mehr Bombast – versprüht einen regelrechten Tanzcharakter. Starkes Schlagwerk, schmetterndes Blech, brillierende Streicher und furioses Holz – das ist ein klassisches Spektakel ohne große Klangexperimente. Dazu passt, dass die diesem Werk zugrundeliegenden Skalen pentatonisch klingen. Etwas zahm, könnte man meinen. Bei genauerer Betrachtung ist der Tonvorrat jedoch reicher – auch Harmoniewechsel mitinbegriffen.
Daraus ergibt sich noch einmal ein Schluss mit viel Trubel und einem richtigen Höhepunkt, der zum dritten Mal an diesem Abend für Standing Ovations sorgt. Da kann man auch darüber hinwegsehen, dass das Orchester die Gelegenheit nutzt, um anschließend noch einmal geschlossen in den „Slava“-Siegesruf der Ukraine einzustimmen. Solche politischen Statements im Konzertsaal haben zwar immer etwas Ambivalentes. In diesem Fall kann man es aber verstehen – ohne das geht es hier wohl auch gar nicht. Damit war dieses Konzert nicht nur ein Genuss, sondern vor allem ein musikalisch starkes Zeichen für eine stolze und unabhängige Ukraine, die sich in ihrem Widerstandskampf nach Frieden sehnt, diesen aber sicherlich nicht bedingungslos akzeptieren wird.
Daniel Janz, 7. November 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Bach Collegium Japan, Masaaki Suzuki Dirigent, Bach-Kantaten Kölner Philharmonie, 1. November 2022
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