Antoine Tamestit (Foto: Philippe Matsas)
… bis einen Antoine Tamestit wieder aus der frühsonntäglichen Dämmerung reißt, weil Paul Hindemith jetzt den Radetzky-Marsch zerlegt, aber dermaßen, dass es fast – so höre ich es – zu einer verzweifelten Satire wird: Es ist, als zerschmettere Hindemith das Österreichische Kaiserreich durch Dissonanzen. Steile These, ich weiß, aber ich bin da für Diskussionen offen. Nicht umsonst gibt es einen Roman dieses Namens.
Hindemith: Kammermusik für Viola & Orchester Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21
NDR Elbphilharmonie Orchester
Antoine Tamestit Viola
Dirigent Alan Gilbert
Elbphilharmonie, 22. September 2024
von Harald Nicolas Stazol
Tony ist 10, und findet Hindemith „cool“. Er sitzt mit seinen Eltern vor dem allerhohen Hafenpanorama der morgensonnenüberglänzten Glasscheiben von Herzog&de Meuron, wie findest Du die Elphi, frage ich im Vorüberflanieren, „Auch cool“. Und Beethoven? „Sehr cool!“
Damit könnte diese Rezension schon ihr Ende finden, recht eigentlich, aber wozu wäre ich denn sonst da? Volle zwei Stunden lang? In einer Darbietung so zurückhaltenden Funkelns, es geht einem quasi im Hinabstreben der Treppen nach dem fulminant-amüsanten Konzert auf, dass man den 2. Satz Beethoven vor sich hinsingt, dann den letzten Satz dieses Erstlingswerk, völlig unterschätzt m.E.
Ich singe vor mich hin, wirklich im freudschen Sinne unterbewusst, es waltet auch das Über-Ich denke ich.
Sie sehen? Das ist der Beethoveneffekt. Man verliert sich, so sehr, dass man eben leise singend die hellhölzernen, für Unachtsame ach so gefährliche Stufen hinabsteigt, dass eine alte HH-Lady sagt, mit einem ehrwürdigen Lächeln, „Ach wie schön!“ – „Ich war mal Knabensopran.“ „Das hört man!“ – und natürlich eile ich bereits, ihr den Aufzug gegenüber klarzumachen, „Drücken Sie, Sie Penguin, na wird’s bald!“, da lachen wir zu Dritt, und punkt Eintreffen der edlen Dame gehen die Türen auf. Das hab ich mir damals im St.Regis, NYC, mal vom Liftboy abgeguckt: Noch während die Koffer anrollen, „The lift is here, Sir! This way please!“
Ich frage und frage, alle um mich herum, ja, wie war er denn Ihnen, der Beethoven?
„Man ist so befreit“ – „Endlich einmal keine Sorgen“ – „Man fühlt sich beflügelt“ – „It’s a symbol of Hope?“ – „Aaaahh, une piece de Paix!“ – dies sind die Stimmen, die ich höre, wenn ich vox populi erfrage, in einer Art charmanten Überfallens, da geht es noch um Ludwig van.
Aber jetzt vom „coolen“ Hindemith. Relativ dringlich steht eine Hamburgerin neben mir Sitzendem. „Darf ich Sie bitten? Ich sitze direkt neben Ihnen.“ – „In dem Fall lass ich Sie nicht durch.“ – „Bitte?“ – „Kleiner Scherz“, sage ich, und so beginnen Freundschaften. Sie will namentlich nicht genannt werden, aber irgendwie erinnert sie mich an eine Dagmar, jedenfalls: „Ich werde den NDR noch anschreiben, sie haben die Violen da Gamba durch Celli ersetzt. Da hätten sie gleich das Cembalo mit ’nem Steinway ersetzen können!“ Da sage ich WOW – denn Dagmar weiß es, weil sie nämlich „Musikerin“ ist, und die Viola da Gamba spielt. Jetzt schon kündigt sie an, dass „ich Sie vor Hindemith stören muss, aber den lasse ich aus. Ich komme erst zu Beethoven zurück.“ – „Zu Befehl, Gnädigste“, fast salutiere ich im Sitzen. Nun erwacht der Sensationsjournalist, EIN SCOOP! „Darf ich erfahren, warum?“ – „Die Tonalität, die Atonalität, es ist zu anstrengend.“, wenn ich es recht in Erinnerung habe, ich habe mein Notizbuch ja noch nicht einmal ausgepackt.
Sollten hier wieder in gewissen Kreisen Zweifel an meinen Worten aufkommen, genauso trug es sich zu, es sei zum Beweise jedermann eingeladen, mich zu begleiten. PM please.
Also fact check: Bach.
Alan Gilbert an der zweiten Bratsche, und die Erste? Antoine Tamestit. Gamben hin oder her, da wird schon mal losgespurtet, dass halb Brandenburg wankt, bei Johann Sebastian Bach, und dem Konzert Nummer 6. Zu Tamestit kommen wir noch.
Gerne würde ich nun Dagmar etwas ins Ohr flüstern, aber das geht nicht im Adagio ma non tanto, und sie würde es wohl nicht verstehen, – „nirgendwo steht, dass sie die Instrumente getauscht haben!“ – ICH höre da BACH 2.0.
In der Tat, da donnern sie los, die NDR Musiker im Kammerorchester, „keinen Tag ohne Bach“ sagt man in Holland, las ich auf diesen Seiten von einem geschätzten Kollegen – mich sorgt, wie an der Rennbahn, dass die Vollblütler zu schnell angeritten werden, und ihnen vorm Finish schon in der Zielgeraden die Kraft ausgeht…
Als der 3. Satz einen noch schnelleren Duktus annimmt, wähne ich mich auf einer Achterbahn, die gleich aus der Kurve fliegt. Müde? Ermattet? Wie konnte ich das auch nur annehmen… ein professionelleres Niveau muss man mir erstmal nennen. Liebe NDRler, ich schulde Ihnen eine Entschuldigung!
Allein, immer wieder meine larmoyante Klage: MAN HÖRT DAS CEMBALO NICHT! Egal, wo ich sitze, neulich – ich schrieb davon – konnte Andreas Staier sich beim Brandenburgischen Konzert Nr.1 auch nicht durchsetzen, erst Tage später im Kleinen Saal, was ja auch viel sinniger: Das Instrument wurde ja auch für Salons konzipiert, und kleine Soireen, nicht für einen mir unverständlichen Weise nicht vollbesetzten Saal, wir mögen 1800 Musikliebende sein. Und Andreas Staier, „der größte Cembalist der Welt“ schrieb ich, hatte eben eine Viola da Gamba im Orchester.
Mais tant pis.
Denn dann der coole Hindemith. Dagmar lass ich natürlich sofort raus, kaum, dass der gambenlose Bach verklingt – na jetzt bin ich aber langsam gespannt wie ein Flitzebogen!
Tamestit. Und jetzt gilt es, sich anzuschnallen, die „Kammermusik Nr.5 op. 36 Nr.4“ des Paul Hindemith – sie bricht geradezu herein, da wird kein Pardon gegeben! Antoine Tamestit meist auf schwingenden Knien, als würde man einen schreienden Säugling beruhigen – und die Kombination aus, dass ich weder mit dem Komponisten wirklich vertraut bin, noch von diesem Genial-Stück überhaupt wusste, eröffnet für mich Orient und Okzident zugleich.
Ich höre gegeneinander ankämpfende Läufe, die keinen Regeln zu folgen scheinen, aber da ich von gestrigen Premierenfeier an der Oper noch etwas erschöpft bin zur Matinee, Vieltöne, die aber eine wilde, ungebändigte Schönheit haben, wenn man ein wenig wegdämmert. Für mich äußerstes Gütesiegel.
Bis einen dieser Teufelsbratscher Antoine Tamestit wieder aus der frühsonntäglichen Dämmerung reißt, weil Paul Hindemith jetzt den Radetzky-Marsch zerlegt, aber dermaßen, dass es fast – so höre ich es – zu einer verzweifelten Satire wird: Es ist, als zerschmettere Hindemith das Österreichische Kaiserreich durch Dissonanzen. Steile These, ich weiß, aber ich bin da für Diskussionen offen. Nicht umsonst gibt es einen Roman dieses Namens.
Kaum zur Pause hinaus, als erster die schwerste Tür der Stadt aufstoßend, wer stürmt mir entgegen? Dagmar.
„Gut, dass ich Sie treffe, es steht doch drin, dass die Instrumente getauscht wurden, im Programmheft, sehen Sie hier!!“ Ich sehe hin. Sie sehen, Sie sehen nichts. Ich weiß nicht, welcher Layouter da sadistische Anwandlungen hatte – so sieht das Kleingedruckte von Knebelverträgen aus.
Hach, und dann die ersten Takte LvB. Wunder und Erlösung bahnen sich an, Entspannung und Apotheose, und ich kann mich der Musikwissenschaftler nicht anbequemen, die Beethovens 1. nicht als der anderen gleichrangig ansehen! Differo! Non: J’accuse!
Sie tragen es vor, wie quasi aus der Hüfte geschossen, das NDR Elbphilharmonieorchester, und Spaß machts ihnen auch noch, gemessen an den fröhlichen Gesichtern, die ich durchs Glas erspähe.
Und ich zolle Hochachtung ausdrücklich diesem, unserem zu Gottes Lob und Preis Haus- und Traumdirigenten Alan Gilbert.
Der hat’s nicht nur drauf, der hat ALLES drauf!
Übrigens traf in der Pause NOCH eine Spielerin der Viola da Gamba.
Aber das glaubt mir jetzt wieder keiner.
Harald Nicolas Stazol, 22. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sonntags-Matinee mit Tamestit/ Gilbert. 22.9.2024:
„Gern würde ich Ihnen (und nicht Dagmar) etwas ins Ohr flüstern…“
Herr Stazol,
bei so viel atmosphärischer Publikumsbeschreibung und auch Begeisterung für die dargebotenen Werke, sollte Ihnen doch nicht entgangen sein: es war der Bayerische Defiliermarsch und nicht der Radetzky-Marsch… und somit Hindemith dann doch eher den Bayerischen Freistaat als das Österreichische Kaiserreich „zerschmettern“ wollte…
…aber ein Marsch bleibt dann als kleinste Gemeinsamkeit.
Jens-Ulf R.