Foto: Elbphilharmonie, Hamburg, (c) eberhardt-travel.de
Elbphilharmonie, Großer Saal, 31. Dezember 2021
NDR Elbphilharmonie Orchester
Makoto Ozone Klavier
Alan Gilbert Dirigent
von Harald Nicolas Stazol
Sergej Wassiljiwitsch Rachmaninoff hielt seine “Danses Symphoniques” – die “Symphonischen Tänze”, der drei an der Zahl, sein letztes Werk, für sein Bestes. Nun, der Rezensent auch.
Aber mit Superlativen ist es wie mit Stalinorgeln: Sie nutzen sich ab, laufen heiß und werden unbrauchbar. Da braucht man dann schon eher eine Bombe.
Und genau die explodierte hier in der Elbphilharmonie – auf den Brücken dorthin roch man das Salzwasser der Nordsee – an diesem Silvesterabend 2021, als Alan Gilbert über das NDR Elbphilharmonie Orchester – welch gülden Glanz für unsere Stadt – den Stab ansetzte.
Und der Bomben folgten noch drei:
Beim “Karneval” von Antonin Dvořák wippte schon die Spitze der Pumps meiner Nachbarin zur Linken, und ihres Begleiters Finger aufs Knie klopften im rasanten Takte, und eins weiter rechts eine Jeanshose das linke Knie nicht mehr an sich halten konnte vor lautstarkem, vom Orchester hinreißend vorgesetzt, Rhythmus. Tschechischer Pop des 19. Jahrhunderts, ein wahrer Gassenhauer, und ein schmissiger Auftakt für das Ende eines Jahres, das uns wohl alle an die Grenzen belastet hat – allein: Nichts davon heute Abend, nun, gut, der Maskenball, wie ich ihn nenne, der hoffentlich auch mal endet.
Dann John Adams. Mir war er völlig neu, aber ich bin jetzt ein Fan. Und das kommt so: Nach fünf Minuten seiner “The Chairman Dances”, nun, da fliegt einem das Blech weg.
Denkt man bis dahin noch, und ahnt nicht, dass nach der Höhe und Fallhöhe dieses Niveaus keine Luft mehr nach oben ist, da setzt sich Makato Ozons an den Flügel – gerade hat ihn Gilbert noch im Scherz überall gesucht, da taucht er aus dem Publikum auf, ein kleiner Asiate im grünen Frackhemd sein und legt dann einen Gershwin hin, dass einem ganz anders wird: Denn da ist es ja, das Straßengewirr und die Hupen des New York der 40er-Jahre, das Aufstrebende, der “American Dream” in Noten – und dann improvisiert der Jazz-Pianist (wie nur Keith Jarret im “London Concert” eine Vergleichmöglichkeit sein mag), improvisiert derart, dass nach seinem transzendent-trancehaften Zwischenspiel Applaus im Satz aufflackert. „So ist das”, sagt mein Begleiter Michael, “bei Jazz-Stücken.” Und mit Erstaunen bemerkt man, dass man mit dem Glase die ganze Zeit des Solisten wirbelnde Hände vor Augen hat.
Pause. Seltsam beschwingte Stimmung im Foyer. Noch ein anderer im Smoking, immerhin, recht jung…
Denn auch die Besetzung der NDR Elbphilharmoniker erscheint einem weitestenteils außerordentlich jung, der zweite Cellist, eine erste Geige, ein Oboist, ein Kontrabasses – keine dreißig.
“Schnallen Sie sich an”, sage ich geradenoch meiner Dame zur Rechten, und dann gehts los, das Alterswerk Rachmaninoffs, symphonisch und tanzbar. Man hat die drei Sätze als die Abfolge dreier Jahreszeiten gedeutet – mir erscheint sie als ein einziger Ball auf einem Landsitz bei Prokovne, allein der tanzbare Walzer im zweiten Satz… und wieder die Erkenntnis, dass NICHTS eine Live-Aufführung übertrifft – allein das Eintauchen in Gewalt und Lautstärke dieses Opus, dessen es ein stark verstärktes Schlagzeuges bedarf… solches lässt sich in den eigenen vier Wänden mit dem besten Soundsystem nicht aufs Sofa holen.
Hatte man Kyril Kondrascin noch für den besten Kapellmeister der Tänze gehalten – er sei nun von Alan Gilbert in die Schranken gewiesen, womöglich sogar überflügelt, aber es sind ja auch die Zeitläufte, die sich jede Epoche, jede Generation ihre eigenen Meister sucht, gar gebiert.
Vier Bomben gibt’s an diesem Abend also. Und alle zünden.
Harald N. Stazol, 1. Januar 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at